Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

452 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt gewanderten befinden. Das kann realistisch, fakten­ getreu geschehen wie in den Büchern „Abschiebung“ und „Zwischenstationen“ des 1971 mit seiner Familie aus Russland geflüchteten Vladimir Vertlib. Die Frem­ de kann aber auch ironisch-sarkastisch gesehen wer­ den, wie im Roman „Herrn Kukas Empfehlungen“ des in Wien lebenden polnischen Autors Radek Knapp oder in den Texten des 1990 aus Bulgarien geflüchte­ ten Dimitré Dinev . Die folgende Stelle stammt aus Di­ nevs 2005 erschienenem Erzählband „Ein Licht über dem Kopf“ . Spas kam dahinter, dass nur die wenigsten Bulgaren und Rumänen, die er kannte, Arbeit hatten, dafür aber alle Polen. Sei es auch schwarz, sie hatten eine. Die Polen halfen einander gegenseitig. Mehr als die anderen. Es war besser, ein Pole zu sein. Grieche zu sein, war noch besser, das wusste Spas auch. Als Grieche hatte er gleich Arbeit gefunden, noch am Telefon. Aber er ging sich dann nicht vorstellen. Er war kein Grieche. Ein Pole aber brauchte kein anderer zu sein, er fand auch als Pole Arbeit. Ein Pole zu sein, war mehr, als einer Nationalität anzugehören. Ein Pole zu sein, war schon ein Beruf. Am schlimmsten waren die Schwarzafrikaner dran. Ein Afrikaner zu sein, war eine Strafe. Am besten war es, ein Österreicher zu sein. Darüber waren sich alle Flüchtlinge einig, deswegen waren sie ja auch hier. Ein Österreicher zu sein, war eine Erlösung. Spas und Ilija waren Bulgaren, und das bedeutete, auf der Suche zu sein, so wie viele andere Völker. Ein Bulgare war nur ein Flüchtling, einer unter vielen und unerlöst wie sie alle. Ein Bulgare zu sein, war nichts Besonderes. Es war ohne Bedeutung. Spas und Ilija waren Freunde. Und das bedeutete, zu zweit Arbeit zu suchen. Zu zweit ein Einzelbett und das Essen für eine Person zu teilen. Sie waren zwei Bulgaren. Zwei Bulgaren zu sein bedeutete, mit dem auszukommen, was eine Person braucht. Zwei Bulgaren bedeuteten so viel wie eine Person. Anfangs suchten sie gemeinsam, dann getrennt, denn getrennt konnten sie gleichzeitig an mehreren Orten suchen, und wenn sie getrennt waren, suchte jeder Arbeit für zwei. Sie putzten den Schnee weg, sie putzten Gärten, sie putzten Lager, und sie schauten mit Ehrfurcht hinauf auf die, die die Straßen putzten. Ihre orangefarbenen Gewänder leuchteten. Man sah sie von weitem, wie viele aufgehende Sonnen. Himmelskörper, die ihre festgezeichneten irdischen Wege gingen. Unerreich- bar waren sie. Sie waren von einem anderen Stern. Sie waren Österreicher. Nur Österreicher durften bei der Müllabfuhr arbeiten. […] An ihren Fingern glänzten Goldringe, an ihren Hälsen Ketten, geheimnisvoll ineinandergeflochten wie Schlangen, wie Wächter verborgener Schätze. Die Straßenkeh- rer waren eingeweihte Alchimisten. Sie kannten das Geheimnis. Sie sammelten Müll, der sich in Gold verwandelte und an ihnen leuchtete. Spas und Ilija sehnten sich danach, von solchen Händen bekehrt zu werden. Sie schauten hingerissen. Wunderschön waren diese Österreicher. Wunderschön wie eine Erleuchtung. ■■ Beschreiben Sie, wie Dinev die soziale Stellung der verschiedenen Nationalitäten sieht. ■■ Bestimmen Sie die für den Text charakteris­ tischen Antithesen. Für uns kein Problem, für andere schon Oft ist es für uns Belangloses, das für andere verstö­ rend wirkt. Der kurdische Autor Sedat Demirdegmez zeigt diese befremdenden Kleinigkeiten in der Erzäh­ lung „Wahrscheinlichkeit“ . Die Hauptfigur flieht unter Lebensgefahr aus der Türkei nach Wien und wird dort in eine Wohnung eingeladen: Wir sitzen an einem Tisch in der Küche. Ein schwar- zer Hund läuft durch die Wohnung, er gehört einer Mitbewohnerin. Sie hat sich gerade ihr Essen zubereitet und gibt auch ihrem Hund zu fressen. […] Die junge Frau hat auch kein Problem damit, in einem Raum, in dem ein Hund frisst, zu essen. Sie streichelt ihn sogar manchmal, während sie isst. Ich wasche meine Hände immer zwei Mal mit Seife, wenn ich einen Hund berührt habe. […] Ich nehme meine Zigaretten aus meiner Handtasche und biete allen, die gerade keine in der Hand haben, eine an. „Danke, ich habe meine eigenen“, sagt einer, und der Zweite sagt das Gleiche. Hier bietet man anscheinend nur dem Zigaretten an, der keine hat. Viele stellen Fragen über die politische Lage in Kurdistan und bringen Lösungsvorschläge. Sie machen einen Doppelliter Wein auf und diskutieren über Politik. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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