Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

450 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt sind für ihn „läppische Literatur“ . Die anwesenden Literaturgrößen, allen voran der Vorsitzende der Gruppe, Hans Werner Richter, tun Handke den Gefal­ len und reagieren gereizt. Handke ist mit einem Schlag ein Star in der Welt der Literatur. Ein Jahr spä­ ter ist die Gruppe 47 Geschichte. Im Elfenbeinturm Was Handke in Princeton medienwirksam verkündet, ist seine Distanz zu Autoren wie Böll oder Grass, wel­ che sich mit ihrer Literatur in die politischen Tagespro­ bleme einmischen und gesellschaftliche Kritik üben wollen. „Es wäre mir widerlich, meine Kritik an der Ge- sellschaftsordnung in eine Geschichte zu verdrehen oder in einem Gedicht zu ästhetisieren. Das finde ich die scheußlichste Verlogenheit: Sein Engagement zu ei- nem Gedicht zu verarbeiten. Literatur daraus zu ma- chen, statt es gerade heraus zu sagen. […] Diese Art von Literatur hängt mir zum Halse heraus.“ Außerdem ist Schreiben für Handke kein Engagement, nur das direkte Handeln ist es: „Eine engagierte Literatur gibt es nicht. Der Begriff ist ein Widerspruch in sich. Es gibt engagierte Menschen, aber keine engagierten Schrift- steller.“ Und Handke setzt in seinem Aufsatz mit dem provozierenden Titel „Ich bin ein Bewohner des Elfen­ beinturms“ (1972) fort: „Es interessiert mich nicht, die Wirklichkeit zu zeigen oder zu bewältigen, sondern es geht mir darum, meine Wirklichkeit zu zeigen (wenn auch nicht zu bewältigen).“ Die Beschreibung des Glücks im Gehen, Sehen, Hören In vielen Werken Handkes ist es die Natur, die den Menschen zu sich kommen lässt. Im Aphorismen­ band „Die Geschichte des Bleistifts“ (1982) bringt der Autor dieses Gefühl des Einklangs mit der Natur auf den Punkt: „Ganz ich werde ich erst im Angesicht ei- nes Baumes.“ Die Suche nach einer Welt, in welcher der Autor mit sich und der Welt in Harmonie ist, durchzieht Handkes Schreiben. In „Die Lehre der Sainte-Victoire“ (1980) folgt er auf der Suche nach dem Ursprünglichen den Spuren des Malers Cézanne und dessen Darstellung der Montagne Sainte-Victoi­ re, eines Berges in Südfrankreich. Handkes Roman „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ trägt den Unterti­ tel „Ein Märchen aus den neuen Zeiten“. Handkes Er­ klärung des Untertitels: „Märchen heißt: Am tiefsten vorgedrungen in die Welt sein.“ In der „Niemands­ bucht“ erscheint die Natur rings um eine Pariser Vor­ stadt als Rückzugsraum, in dem das Leben des Men­ schen ohne Entfremdung mit sich selbst und der Welt möglich ist. Der folgende Ausschnitt berichtet von einem Spaziergang des Erzählers. Ich blieb stehen, auf einem Pfad verwachsen von Buchs, am Fuß der so unverhofft aus dem Wald getretenen Steinblockreihe, auf welche, mit den Bäumen im Abstand, die Sonne schien. Es waren das Felsen wenn nur je, zum Klettern, zum Sich- Zutodestürzen, zum Unterstellen bei Unwettern. Und dann hörte ich […] ein Dröhnen, aber anders als […] das der Kriegsflugzeuge, welche da noch öfter als üblich von Villacoublay aus ihre Übungs- schleifen über die Ile-de-France zogen: Es war ganz nah, hatte auch, anders als die Bomber, etwas tief Gleichmäßiges, und kam aus dem Felsen vor mir. Für den Moment gab es kein anderes Geräusch. Die ganze haushohe Steinwand, wie kieselglatt, wummer- te, und erst eine Handbreit vor ihr bemerkte ich den Spalt, woraus, ich musste zur Vergewisserung beinah das Ohr darauflegen, der große Schall drang. Drang? Er durchdrang mich, verdrängte mich, und ich ließ mich von ihm durchdringen. Und zugleich bekam ich es fast mit der Angst, nicht nur wegen der einen oder anderen Biene, die da herausschoss und deren Einzelsirren, kaum im Freien, sofort verpufft war oder sich nach nichts anhörte. Dass es im Felseninnern so brauste, rührte nicht nur von dem wilden Bienenvolk da drin, sondern auch von dem in der Tiefe wohl zur Höhle erweiterten Spalt: Die Bienen, welche heimkehrten, hörten sich im Moment des Sichhineinzwängens in den Schlupf wespenschrill an und gingen im Moment danach auf in die ganz andere Sonorität, das Röhren aus der Felsenmitte. So nah und bedrohlich der Klang war, so hatte ich andrerseits noch nie etwas aus einer weiteren Ferne kommen hören. Wenn das die Entrückung war, dann bestand nichts Wirklicheres als die Entrückung. […] Wenn je eine Musik der Sphären, so tönte sie aus der Erde hier. In der Stunde bei den Felsbienen blieb es im Umkreis nicht lange so mittagsstill. Gerade an dem Tag fand in Paris wieder eine Friedenskonferenz zu einem der Bürgerkriege statt, und der Luftraum über der Sieben-Flugplätze-Gegend war bald erfüllt von dem Klirren und Knattern der Hubschrauber, welche die 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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