Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
446 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt 25 „…nagten an dem Körper und höhlten ihn aus, bis er leicht genug war …“ Alois Hotschnig: „Die Kinder beruhigte das nicht“ (2006) Neun kurze verstörende Erzählungen Ein Junge verschwindet bei einem Bootsausflug, sein Vater sitzt jahrelang am Seeufer und wartet auf ihn. Ein Mann geht zum Arzt, der verschreibt ihm Tablet ten, die er dreimal täglich nehmen muss. Der Mann geht nach Hause, kommt zu den Spuren eines Un falls. Die Opfer sind der Arzt, dessen Mutter und des sen Frau: „Es hieß, seine Mutter war mit ihm im Wa- gen gesessen und seine Frau, daran dachte ich jetzt, und an die drei Kreuze, die er mir auf die Packung ge- malt hatte für morgens, mittags und abends.“ Immer werden die Menschen in Hotschnigs Band „Die Kin der beruhigte das nicht“ entweder selbst zu Opfern unerklärlicher Ereignisse oder beobachten, wie das Leben überall seine Opfer fordert, so in der Erzäh lung „Begegnung“. Es hob den Kopf und erstarrte in dieser Pose, als gelte es, einem Gegner zu drohen, dann setzte es seine Wanderung fort. Sein Panzer schimmerte feucht in der Sonne. Hörbar schnappten die Schau- feln ins Leere. Gelegentlich legte das Tier sie um den Schaft eines stärkeren Halmes, und, wie um sich einen Überblick von der Umgebung zu verschaffen, zog es sich daran hoch, um doch nur, wann immer es an der Spitze eines Halmes oder an der Oberseite eines Blattes angelangt war, hinunterzufallen und bewegungslos liegen zu bleiben und eine ganze Weile in nahezu vollkommener Reglosigkeit zu verharren und sich vielleicht schon im nächsten Moment in eine heftige Bewegung zu stürzen und seinen Weg fortzusetzen oder den nächstbesten Halm zu umkreisen und an dessen Basis den Kopf in die Erde zu bohren oder umzudrehen und in anderer Richtung weiterzumachen. Immer wieder hielt es inne inmitten einer Bewegung oder ver- meintlichen Drohung, dann senkte und hob sich der Körper und mühte sich weiter voran auf eine Gruppe von Steinplatten zu, die im Gras versenkt waren und zu einem Kiesweg hinführten. Klirrend schrammte der Panzer gegen die Platten, dabei strauchelte das Tier und kam auf dem Rücken zu liegen, um sich mit einem Ruck auf die Beine zu werfen und in den kühleren Rasen zu robben und dort seinen Weg fortzusetzen. Der Kampf schien das Tier zu ermüden, denn immer öfter kam es nun in ganzer Länge auf einem der Steine zu liegen, und von Mal zu Mal dauerte es länger, bis es den weichen und schutzlosen Unterleib zu heben vermochte. Bei einem Versuch, sich von einem Stein abzustoßen, stürzte es über den Wegrand hinunter auf den Kies. Die Glieder liefen frei in der Luft. Der Bauch war deutlich heller als der übrige Körper, und weich, und hob und senkte sich ständig und blähte sich auf und fiel ein, eine Ameise lief darüber hinweg, um kurz das Gesicht zu berühren, das Maul, und verschwand unter den Steinchen und kam wieder und kroch dem Tier übers Gesicht zu den Augen und nagte und zerrte daran und war wieder verschwunden, um doch wiederkommen und sich mit jedem Mal länger in dem Tier zu verbeißen. Bei dem Sturz musste es sich verletzt haben, denn die linke Seite zog es nun nach, doch bewegte es sich trotz dieser Einschränkung behände über den Kies, der hier und dort schüttere Stellen aufwies, an denen die Erde zum Vorschein kam, die dem Tier in der Farbe entsprach. Wann immer es an eine derartige Lichtung gelangte, versuchte es sich in die Erde zu graben, doch schon bald gab es auf und schleppte sich weiter bis zu dem Randstein, über den es herabgestürzt war und den es zu überwinden galt offenbar, denn das Tier setzte alles daran, zurück ins Gras zu gelangen, doch scheiter- ten die Beinchen an der Glätte der Steine. Wie besessen arbeitete es sich die Kante entlang, bis es endlich einen Spalt in der Mauer entdeckte, durch den es sich ins Rasengebiet zwängen konnte. Dort lag es jetzt still, eine Zeit, und begann, sich mit sich zu befassen, vorsichtig liefen die Fühler über die beeinträchtigten Glieder hinweg und fingerten über die Öffnung des Mauls, die Mundwerkzeuge stülpten sich vor und zurück, dabei duckte und reckte es sich, und mit einem Ruck kam das Tier jetzt noch einmal auf einem der Steine zu liegen, rücklings, in den hinteren Beinen war ein heftiges Zittern, das den ganzen Körper ergriff und wieder abnahm und unscheinbar wurde und schließlich verebbte, während die Schaufeln wild gegen den Kopf prallten und nicht aufhören wollten, wie bettelnd gegeneinander zu schlagen, das Maul ging auf und ging zu, und der Bauch sank jetzt ein und blieb flach und hatte seinen Schimmer verloren, bis 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv
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