Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

443 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt 22 „Wenn ich ihn richtig verstehe, sagt er uns, dass wir Menschen sind.“ Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre (2018) Von Damaskus an einen idyllischen See … Dass trotz guten Willens die Hilfe für Flüchtlinge miss­ lingen kann, zeigt Norbert Gstrein in seinem Roman „Die kommenden Jahre“ (2018). Der Ich-Erzähler mit Na­ men Richard ist engagierter Glaziologe, der meint, man dürfe „keine Gelegenheit auslassen, der Welt vor Augen zu führen, dass das ewige Eis keineswegs ewig sei“ und gegen die „Unverbesserlichen und Ewiggestrigen, die al- les leugnen“ , ins Feld zieht. Bei einer Veranstaltung hat seine Frau Natascha Herrn Farhi, dessen Frau und deren zwei Söhne kennengelernt. Der Bauingenieur ist vor kurzem von Damaskus nach Deutschland geflohen. Na­ tascha stellt der Flüchtlingsfamilie ihr idyllisch an ei­ nem See im Osten gelegenes Wochenendhaus zur Ver­ fügung. Richard ahnt nichts Gutes. Doch zunächst scheint er sich zu irren. Manche suchen den Kontakt mit der Flüchtlingsfamilie, eine Familie kauft sich einen Ko­ ran, manche möchten „Verständnis“ zeigen: Der Flohmarkt endete mit dem Auftritt einer lokalen Band. […] Direkt neben mir hielt sich Herr Farhi, der zusammenzuckte, als der Sänger auf die Bühne sprang und nach einer ins Mikrofon gebrüllten Begrüßung fragte, ob es unter den Anwesenden auch Flüchtlinge gebe, und sich im nächsten Augenblick korrigierte, er meine Geflüchtete. […] Und als niemand sich rührte, wiederholte er die Frage auf Englisch. Schließlich gingen doch da und dort Hände hoch, und er fragte, woher sie kämen, und kündigte, ohne auf die Antwort zu warten, lautstark an sein Auftritt sei ihnen gewid- met. „Ich singe oft vor Behinderten wie überhaupt vor Menschen mit einem Handicap“, rief er in die Menge. „Deshalb weiß ich, dass man auch mit einem Handi- cap ein geiles Leben haben kann, ja dass ein Leben mit einem Handicap oder einer Behinderung nicht vorbei, sondern genauso geil ist wie ein Leben ohne.“ Ich wagte nicht zu Herrn Farhi hinüberzublicken. […] „Der Kerl scheint nicht gerade der Hellste zu sein“, sagte er: Wenn ich ihn richtig verstehe, sagt er uns, dass wir Menschen sind.“ „ Nicht nur Menschen“, sagte ich. „Menschen genau wie er.“ Ein Roman mit dreifachem Schluss Jugendliche streifen ums Haus, fahren in Booten mit Fa­ ckeln über den See, doch sind sie tatsächlich eine Be­ drohung? Gleichzeitig kursieren Gerüchte: Ist Farhi in Wahrheit kein Syrer, sondern ein Palästinenser? Oder, so kommt es Richard zu Ohren, und der hält es nicht für ausgeschlossen: Ist Farhi gar kein Opfer des Assad-Re­ gimes, sondern ein in Ungnade gefallener Offizier der syrischen Armee? Die beiden Söhne werden entführt, doch unversehrt gefunden – was war eigentlich los? Das Buch endet mit drei (!) dreizehnten Kapiteln, denn Gstrein bietet den Schluss in drei Varianten an: „Das erste dreizehnte Kapitel: Ende für Literaturliebhaber“ ; „Das zweite dreizehnte Kapitel: Ein anderes Ende“ und „Was wirklich geschehen ist“ . Hier greift Herr Farhi zur Pistole, die ihm Natascha zugesteckt hat. Zwei der ums Haus streifenden Jugendlichen lagen „in kriti- schem Zustand im Krankenhaus und kämpften mit dem Tod, zwei weitere waren schwer verletzt“ . Und „Herr Farhi war in Haft genommen worden“ . Gstrein zeigt, dass es so etwas wie eine absolute Wahrheit, die sich aufschreiben und anschließend (literarisch) ver­ künden ließe, nicht immer und nicht leicht gibt, schon gar nicht in so komplexen Fragen wie Flucht und Mi­ gration. „Bei Gstrein besteht die Welt nie schwarz-weiß-malerisch aus Tätern und Opfern … Wahrheit ist hier nicht einfach zu haben“, meint ein Rezensent. ■■ Besonders in Deutschland wird oftmals das Wort „Flüchtling“ durch „Geflüchtete/ Geflüchteter“ ersetzt. Argumentiert wird, dass die Endung „-ling“ oft negativ besetzt sei – „Schreiberling, Fremdling“ – nicht genderbar sei und oft ein Abhängigkeitsver­ hältnis beschreibe – „Lehrling“. Nehmen Sie Stellung zu dieser Frage, untersuchen Sie, ob es Gegenbeispiele zu den angeführten „Negativbeispielen“ gibt, wie etwa „Liebling“. ■■ Beurteilen Sie die ebenfalls verwendeten oder vorgeschlagenen Begriffe „Asylanten“, „Refugees“, „Vertriebene“, „Zufluchtsuchende“, „Migranten“, „Neuankömmlinge“. ■■ Beurteilen Sie die Auftrittsrede des Band­ leaders und analysieren Sie die Reaktionen des Ich-Erzählers und Herrn Farhis. Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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