Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
439 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt wenig, werde aber immer weicher und gummiartiger, als würden meine Gliedmaßen mir nicht mehr gehorchen. Genau so hat er es zu Hause gemacht. Genau so. Wenn jemand Verwundete vor unserer Haustür ablegte. Wenn wir ihre Wunden versorgten. Sie lagen bei uns im Keller, manchmal bis zu fünf gleichzeitig, ich und Mama bekochten sie und Papa versorgte ihre Wunden. Manche schafften es. Andere schafften es nicht. Die haben wir mit allen Ritualen hinter unserem Haus beerdigt. Der Friedhof war längst zerbombt. […] Ein richtiges kleines Lazarett. Gut, dass Papa wusste, wie. Gut, dass er früher Krankenpfleger gewesen war. Schlecht aber, dass wir den Verwundeten eigentlich nicht hätten helfen dürfen. […] Später hat jemand Volksverräter auf unser Haus geschrieben. Aber wenn wir nicht geholfen hätten, hat Papa gesagt, hätten uns die anderen umgebracht. Wenn Krieg ist, gibt es immer mindestens zwei Seiten, und wenn man dazwischen- gerät, bleibt nicht viel von einem übrig. Das weiß sogar ich. Mittlerweile. ■■ Bestimmen Sie die verschiedenen zeitlichen Ebenen des Textabschnitts. ■■ Erklären Sie Madinas Verhalten und fassen Sie das von ihr in der Heimat Erlebte zusammen. ■■ Erläutern Sie den entscheidenden Flucht grund der Familie. Tagebuchfantasien Ich weiß, es gab einen, der einen roten Faden im Labyrinth ausgelegt hat, um wieder hinauszufinden, hat mir Laura erzählt. Irgendwo tiefdrin im Laby rinth wartete das Monster, ein Mann mit Stierkopf, und musste erschlagen werden. Die Geschichte hat mir noch nie gefallen. Wieso war der Mann mit dem Stierkopf denn ein Monster? Der hatte einfach … wie soll ich sagen … der hatte eben ein Außenseiter- problem. So wie ich mit meinem verdammten Ledermantel, den ich tragen musste, weil wir sonst nichts hatten und der mich zum Ungeheuer stem- pelte, den ganzen Winter lang. […] Der Minotaurus hat mir jedenfalls immer sehr leidgetan. Ich hätte ihn nicht erschlagen. Ich hätte ihm hinausgeholfen. Mit Leine und mit Maulkorb versehen. Ihn dann anständig gefüttert und ihn gezähmt. […] Ich habe keinen Faden, den ich irgendwo befestigen könnte. […] Ich muss durch diese Nebelsuppe waten wie durch einen Sumpf. Und ich muss dabei aufpassen, dass meine Füße nicht im Morast versinken. Ich bin langsam. Ich muss meine schweren, vollgesogenen StiefeI mit Kraft aus dem Schlamm reißen. Manch- mal ist es besser, langsam zu sein. Jeden Schritt zu überlegen. Ich wünschte, ich könnte das besser. Schritt für Schritt. So werde ich unbeschadet durch das Feld kommen. Und durch das Feld muss ich, wenn ich zum Meer kommen will. Die Küste, die hinter den Schluchten liegt. […] Der Nebel hüllt mich ein. Ich darf nicht zu lange warten, sonst durchdringt er mich und füllt mich aus und ich zerlaufe in ihm zu einem weiteren Nebelschleier, ohne Blume. Löse mich auf. Lösche mich aus. Ich darf mein Ziel nicht aus den Augen verlieren. Hier sieht man keine Sterne, an denen man sich orientie- ren könnte. ■■ Erläutern Sie die Parallelen und Unterschie de, die Madina zwischen sich und dem Minotaurus sieht. ■■ Analysieren Sie ihr erdachtes Verhalten gegenüber dieser Mythenfigur. ■■ Erläutern Sie, mit welcher Landschaftsmeta pher sich das ersehnte Freisein ausdrückt und welche Metaphern für die Hindernisse stehen, sie zu erreichen. „Es ist nie vorbei“ Aus der alten Heimat kommt ein Brief von der Groß mutter Madinas. Der Inhalt ist niederschmetternd: „Onkel Miro wurde verschleppt“, sagt Papa. Mir wird sofort schlecht. „Ist er tot“, frage ich. „Verschleppt, das heißt bei uns tot. Über kurz oder lang. „Und warum musst du deswegen weg?“ „Weil deine Großmutter ohne ihn nicht überlebt. […] Sie wollen, dass ich mich stelle. Dann lassen Sie ihn frei.“ Zurückgehen heißt sterben, glaube ich. […] „Nein, 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 Aufgabe 2 4 6 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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