Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

438 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt geladen wird: „Ich lasse mir nicht von einer Frau vorschreiben, was ich zu tun habe und was nicht.“ Die Mutter schweigt ebenso wie die mitgeflüchtete Tante Amina. ■■ Deuten Sie die beiden Notizen Madinas aus dem Abschnitt „Ein Tagebuch“. ■■ Beschreiben Sie die Einstellung des Vaters. Eine Nacht in der „Flüchtlingspension“ Mitten in der Nacht bricht ein Inferno los. Ich wache auf, weil jemand furchtbar schreit. Entsetzlich. So laut und durchdringend, dass sich die Haare auf den Armen aufstellen. Genau so, wie wenn die Kreide auf der Schultafel dieses Geräusch macht, von dem einem sogar die Zähne wehtun. Ich weiß zuerst gar nicht, wo ich bin. […] Noch ein wenig später stelle ich fest, dass ich diejenige bin, die so schreit. Draußen, vor dem Fenster, ist ein roter Wider- schein am Himmel zu sehen. Ich habe rasende Angst, weil ich nicht verstehe, warum ich da in der Ecke sitze, nicht im Bett bin, was denn passiert ist. Der nächste ohrenbetäubende Knall. Und eine rote explodierende Kugel zwischen den matt funkelnden Sternen, zuerst rot und dann, im Verglühen und Herabregnen, Weiß und Gelb, noch ein Knall und gleich darauf ein grüner Regen aus Funken. Rauch zieht seitwärts davon, riecht wie Pulver, riecht wie Schüsse, riecht, wie viele meiner Nächte gerochen haben, fühlt sich an wie diese Nächte. Ich schreie und schreie, und Papa reißt die Tür auf und läuft zu mir und will mich hochheben, und ich schreie noch lauter und stoße ihn mit aller Kraft weg. Rami heult irgendwo im Hintergrund. So hat er auch zu Hause geheult. Alles ist wie damals, alles. „Es ist nur ein Feuerwerk, ein Feuerwerk“, brüllt Papa. „Nur ein Feuerwerk!« Er hebt mich hoch und drückt mich so fest an sich, dass unsere Knochen knacken. Ich spüre seine Hände an meinen Schul- tern, und gleich darauf spüre ich nichts mehr. Bin weg. Bin wieder dort. Bin auf der Straße vor dem kleinen Gemischt- warenladen, der dem Vater von Mori gehört, spüre die Wärme der aufgeheizten Straße, höre das Summen der Insekten, die um das Obst kreisen, das Moris Mutter für uns auf die kleine Holzbank gestellt hat, damit wir, wenn wir fertig sind mit dem Spielen, gemütlich Pause machen können. Mori lacht, hat ihre kleine Schwester im Arm, auf die sie aufpassen muss. Lolo. Mit blauen Augen und hellen Löckchen, die Arme sind noch ganz rund und dick, so dick, dass sie lustige Falten hat zwischen dem Handgelenk und der Handfläche. Lolo lacht auch, hat nur ein paar kleine Zähne im Mund. Strahlend weiße Zähnchen, wie bei einem kleinen Tier. Wir drehen uns, einmal, zweimal, Hand in Hand. Moris Mutter kommt aus dem Haus, trägt einen blauen Krug mit verdünntem Saft, und als sie den abstellen will, auf der Bank neben den Äpfeln und Feigen, knallt es plötzlich so laut, dass ich noch Tage später auf dem linken Ohr nichts hören kann. Es knallt, und ich verliere die Orientierung. Ich sehe das Haus von Mori in einem ganz eigenartigen Winkel schief über mir vorüberziehen, dann nur noch Gras um mich, so rot gesprenkeltes Gras. Hebe meine Hand. Die Hand ist auch rot gespren- kelt. Ich begreife gar nichts. Richte mich auf, der Sand ist voller roter Lachen. Menschen kommen angerannt, andere, die die Wucht der Explosion umgerissen hat, liegen an den Straßenrändern, stehen benommen auf und schreien irgendwas oder auch nicht. Moris Vater. Moris Mutter. Irgendjemand hebt mich hoch. Irgendjemand trägt mich weg. „Wo ist Mori“, flüstere ich. Während sie mich tragen, sehe ich aus dem Augenwinkel menschengro- ße Puppen in angekohltem Gewand auf der Straße, die Haare, versengt, stehen komisch vom Kopf ab wie Stroh. Puppen, Vogelscheuchen, denke ich. Keine Menschen. Keine Menschen. Das sind keine Men- schen. Dann schlägt mein Vater mir ins Gesicht. So richtig fest. Meine Wange brennt. Das holt mich zurück. Ich greife auf die prickelnde Haut, spüre meine Hand wieder, spüre mein Gesicht, der Blick weitet sich ein wenig, ich sehe unser Zimmer wieder. Mama mit ganz großen runden Schreckensaugen steht mit Rami in der Tür, steht da wie eine überdimensionier- te Eule. Blinzelt. Rami brüllt sich die Seele aus dem Leib. „Ist Madina verrückt?“, brüllt er, „Ist sie verrückt?“ Papa hält mir ein Glas an die Lippen. „Trink“, sagt er. „Trink.aus.“ […] „Gut” sagt er, „gut.” Und drückt mich in Richtung der Matte. Ich wehre mich ein 16 18 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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