Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

437 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt Nichts wie weg Natürlich werden die Behörden und wird vor allem der Stiefvater Finns nach den Tätern suchen. Und so be­ schließt man, eine „Zeitlang von der Bildfläche zu ver- schwinden” . Doch im Gegensatz zu Mark Twains Huck Finn, der auf dem Mississippi von zuhause abhaut, und das noch dazu mit einem „Negersklaven“, eignet sich die Mur kaum für eine Schifffahrt. Ein auf einem Abstellplatz „entdeckter” alter Ford Transit, mit ver­ beulten Nummerntafeln vom Schrottplatz versehen, wird zum „Fluchtauto”. Eher orientierungslos fährt man durch Österreichs Südosten, schön langsam dünnt sich die Clique aus; aber Finn hat ein Ziel: Wien. Er will dort endlich seinen Vater kennenlernen, der sei­ ne Mutter vor langer Zeit im Stich gelassen hat. Wa­ rum? Finn weiß es nicht. Doch er hat herausgefunden, dass sein Stiefvater etwas damit zu tun gehabt haben muss. Aber was? Und „Ritchi“ hat auch in der Müllge­ schichte politischen Dreck am Stecken. Noch fehlen Finn die Beweise … 20 „Hier kann Damals nicht ersetzen. Gegenwart kann Vergangenheit nicht ersetzen. Ist einfach so.“ Julya Rabinowich: „Dazwischen: Ich“ (2016) Die Literaturkritik ist begeistert Mit Begeisterung rezensieren internationale Zeitun­ gen den Roman „Dazwischen: Ich“. Ein Beispiel: „Unge- schönt und kraftvoll schreibt Julya Rabinowich eine Flucht-Geschichte vom Ankommen – und ein Buch ge- gen den Krieg. […] Rabinowich überzeugt mit ihren Fi- guren, die sie so komplex und ambivalent gestaltet, wie das Leben Menschen zeichnet. […] ‚Solche wie dich können wir hier gut gebrauchen‘, wird am Ende des Ro- mans eine Sachbearbeiterin zu Madina sagen. Das gilt auch für dieses Buch.“ Die Wiener Schriftstellerin kennt sich mit solch einem Thema aus – sie emigrierte selbst als Kind aus St. Petersburg und hat als Dolmetscherin für Kriegs- und Folterüberlebende scharfe Einblicke gewonnen. Lesen Sie die folgenden Abschnitte. Es steht Ihnen frei, ob Sie sich für eine nicht unterbrochene Lektüre des gesamten hier präsentierten Textes entscheiden und sich dann den Analysevorschlägen zuwenden oder ob sie diese Vorschläge an den entsprechenden Stellen erarbeiten und die Lektüre dann fortsetzen. Ein Tagebuch Madina, 15, schreibt Tagebuch. Ort des Schreibens ist eine Flüchtlingsunterkunft in Deutschland: „Das grässliche Haus. Die abgeschlagenen Wände, die kreischenden Kinder. Die verschleierten Frauen.“ – „Ich möchte hier nicht mehr herkommen. […] Es ist furchtbar hier“, sagt ihre deutsche Freundin Laura nach ihrem Besuch bei Madina. Die notiert in ihr Tagebuch: „Habe mich noch nie so dreckig und unansehnlich gefühlt wie heute.“ Und: „Hier kann Damals nicht ersetzen. Gegenwart kann Vergangen- heit nicht ersetzen. Ist einfach so. Gegenwart kann die Vergangenheit nur abschwächen, sie verschleiern, sie überdecken.“ Woher kommt Madina? Wo ich herkomme? Das ist egal. Es könnte überall sein. Es gibt viele Menschen, die in vielen Ländern das erleben, was ich erlebt habe. Ich komme von Überall. Ich komme von Nirgendwo. Hinter den sieben Bergen. Und noch viel weiter. Dort, wo Ali Babas Räuber nicht hätten leben wollen. Jetzt nicht mehr. Zu gefährlich. Das Warten „Alle warten hier. Niemand hat etwas anderes zu tun. Bis der Startschuss zum Hierleben fällt. Dieses Warten ist so schwerelos wie Gegenstände im Weltraum. Kein Boden. Kein Oben. Kein Un- ten.“ Auch Madinas Familie muss warten: Der Vater, der jeden Tag zum Briefkasten läuft, um zu sehen, ob der Asylbescheid gekommen ist, der nicht Deutsch spricht und große Schwierigkeiten hat, das, was „hier anders ist“ zu akzeptieren – darunter auch die Rolle der Frau. Deshalb beauftragt er seinen siebenjähri- gen Sohn Rami, auf seine große Schwester aufzupas- sen, weil Rami eben ein Mann ist. Und er schlägt seine Tochter in der Schule, weil sie bei ihrer Freundin Laura übernachtet hat, und er meint, als er deshalb von der Klassenlehrerin zu einer Aussprache 2 4 6 8 10 12 2 4 6 2 4 6 8 10 12 14 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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