Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

436 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt Wenn man schon nicht selbst den ganzen Müll vernichten konnte, um die Mafia nicht zu verprellen, dann konnte man ihn doch vielleicht woanders hinbringen. Und warum nicht gleich ins Ausland? […] Nicht mehr als tausend Kilometer entfernt, in einem kleinen steirischen Kaff, wurde sogleich Witterung aufgenommen. Pecunia non olet, wie der Lateiner Ritschi zu sagen pflegte. Man wurde unverzüglich handelseinig. Die Vorteile des Pakts für alle Beteiligten waren nicht zu übersehen. So verdienten alle an der Misere, was wollte man mehr? Eine klassische Win-Win-Win-Win-Situation. Die Stadtverwaltung Neapels hatte für eine Weile ein altes Problem vom Hals. Die Frächter, die Tag für Tag und Nacht für Nacht Kolonnen von Lastern nach Norden auf den Weg brachten, machten das Geschäft ihres Lebens. Die Mafia, die an den Fuhren mitschnitt, auch, und, nicht außer Acht zu lassen, eine diskrete Grazer Firma, die das Ganze auf Empfängerseite abwickelte, war auf einen Schlag all ihre Sorgen los. Eine Firma, deren Geschäftsführer rein zufällig mit dem Müllrat und Vizebürgermeister des Kaffs bekannt, verwandt oder irgendwie ver- schwägert war, in das der ganze Dreck gekarrt wurde. Finn, seine Clique – Puck, Robin, Leyla, Susa, Riki, Bert, Fritz, Fred … – und ihre Aktion Mit der Dunkelheit kam Bewegung in die Szenerie am Ufer der Mur. Sie zogen sich dunkle Overalls mit Greenpeace-Logos, Einweghandschuhe und Hand- schuhe über, setzten sich Masken aus den Märchen der Gebrüder Grimm auf, holten die Kanister aus dem Versteck und folgten dem Pfad, der sie zur Rückseite des Rathauses brachte. Je näher sie kamen, umso lauter die Rufe der Demonstranten, die sich vor dem Rathaus versammelt hatten, um gegen die Ausweitung des Müllvertrags zu protestieren. Finn, in der Maske des Wolfes, der sich die Lefzen leckte, nachdem er die Geißlein verschlungen hatte, hielt sich dicht hinter Leyla, um ihr notfalls beistehen zu können. Bert, Fritz und Riki, die die Schlüssel hatte, liefen, so rasch das in der Finsternis der Neumond- nacht möglich war, vorneweg. Bevor sie den Hinter- eingang öffneten und die Lichtkegel ihrer Taschen- lampen durch die Flure zuckten, bekamen sie noch das Ausmaß der Entrüstung mit, die sich auf der anderen Seite des Rathauses aufschaukelte. Empörte Rufe. […] Polizeisirenen, die näher und näher kamen und ihr Licht in die Nacht um das Rathaus warfen. Sie wussten, dass der Einsatz der Polizei nicht ihnen galt, als sie sich mit ihren Kanistern im Rathaus verteilten. Gänge und Räume waren menschenleer, weil sich der Gemeinderat im anderen Teil des Gebäudes aufhielt. Um den Mob im Auge zu behalten. Undankbare Querulanten, wie Richard alle nannte, die nicht zu schätzen wussten, was der Gemeinderat auf den Weg bringen wollte: ein langfristiges Geschäft, das der ganzen Gemeinde zu Wohlstand verhelfen würde. […] Wie Richard Faulhuber mit Lucanus zu sagen pflegte: Ibi fas ubi proxima merces. Wo der Gewinn am höchsten, da ist das Recht! Ein Rudel zweibeiniger Kreaturen hetzte durch die Flure und Räume des Rathauses. Es markierte alles mit einer stinkenden Flüssigkeit: Sessel, Fußböden, Schreibtische, Aktenschränke, Kopierer, Teppiche und was ihm sonst noch alles unterkam. Finn widmete sich gerade Ritschis Büro, als er sich ihm plötzlich gegenüber sah. Auf wackligen Beinen, als wäre er betrunken, stürzte er in sein Büro, weil er sich dort mittlerweile sicherer wähnte als auf der anderen Seite, zur Straße hin, wo es bereits allerhand Zeug gegen die Fenster des Rathauses hagelte. Beide erstarrten wie vom Blitz getroffen. Der Wolf aber kam viel schneller wieder zu sich. Mit einem Knurren stürzte er sich auf den verdutzten Stiefvater und räumte ihn aus dem Weg wie den letzten Kegel auf einer Kegelbahn, indem er ihm den Kanister an den Kopf knallte, Dann verduftete er, den anderen nach, in der Finsternis zum Fluss hin, von wo sie aufgetaucht waren wie aus dem Nichts. ■■ Bestimmen Sie den Begriff Camorra. ■■ Fassen Sie den Augangspunkt für die Aktion der Gruppe und die Aktion selbst zusammen. ■■ Erläutern Sie Richards Rechtsauffassung. ■■ Untersuchen Sie, zum Beispiel anhand des Artikels „Umweltalarm um steirische Asbest­ deponie in Frohnleiten”, abrufbar in der Internetausgabe des „Standard“, welche realen Fakten den Autor zu seinem Plot „Mülldeponie” angeregt haben könnten. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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