Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

433 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt mir Bedeutung erschließt. Ich kann verstehen […], warum jemand jahrelang meditiert, um zu fühlen, was ich fühle, nämlich nichts und alles. Ich bin da und nicht. Ich löse mich auf und sammle mich ein. Hallo Welt. Auf Wiedersehen. […] Bald komme ich nach Hause, möchte ich sagen, auf allen Wegen gleichzeitig. Ihr habt mir gefehlt, aber, das kann ich guten Gewissens erklären, sollte sich die Gelegenheit ergeben, und es wäre nicht gelogen. Den Rest des Satzes und alle folgenden habe ich in den letzten Wo- chen vergessen. […] Komme ich heim? Bin ich auf dem Weg? Nein und nein. Ich werde nie wieder dort sitzen, das scheint mir als Einziges gewiss, obwohl niemand es ausgesprochen hat, nie wieder in diesem Zimmerchen, das in meiner Erinnerung immer kleiner und dunkler wird, kleiner und dunkler, kleiner und dunkler, bis es meine leibliche Mutter verschluckt und implodiert, schwarzes Loch, Ereignishorizont, ich werde also für immer dort sitzen, in diesem Zimmerchen, das in meiner Erinnerung kleiner und dunkler wird, kleiner und dunkler, kleiner und dunkler … […] Und bald bin ich bereit dafür, dass es Zeit wird, zumindest sage ich mir das wieder und wieder: Ich bin bereit, bereit. Und ich höre Stimmen, die wiederholen, was ich zu mir selbst sage: bereit, bereit, und die Stimmen gehören Sibylle, Johannes und Johanna, und ich sehe sie da stehen, Johanna in der Mitte, als gehörte sie zur Familie, ganz selbstverständlich. […] Aus Westen grüßt mich ein letzter, schwacher Schein. ■■ Deuten Sie die den Ausruf „Hallo Welt. Auf Wiedersehen“ und das Paradoxon in den Zeilen 19 bis 28 bezüglich „nicht sitzen“ und zugleich „sitzen“ im Zimmer der leiblichen Mutter. ■■ Diskutieren Sie, auf wen sich der Satz „Ihr habt mir gefehlt“ bezieht und wie die „vergessene“ Fortsetzung nach „aber“ lauten könnte. ■■ Erläutern Sie, wozu Ernst nun „bereit” ist. Johanna: Unverhofftes Glück – und: nach der Postkarte noch ein Fund In Johannas Kopf ist „nichts als eine randlose Hellig- keit“ . Der Grund: Ein eben verstorbener Nachbar Jo­ hannas hat ihr sein Vermögen vermacht. Das Testa­ ment enthält „Zahlen in sechsstelliger Höhe“ . So muss sie das Haus doch nicht verkaufen, kann ihre Freundin Julia plus Kleinkind einziehen lassen und ihren „Le­ bensvater“ Herbert, „den Mann, der ihr immer ein Vater gewesen ist“ , aus dem Heim zurückholen. Ein Stapel Bücher erregt ihre Aufmerksamkeit: Und während Julia das Bett mit irgendeiner Disney- bettwäsche bezogen hatte, hatte Johanna auf dem Boden gesessen und die Bücher hin und her gewen- det, weil sie es auffällig fand, dass bei keinem von ihnen ein Titel auf dem Einband zu finden war. Als sie dann das erste aufgeschlagen vor sich auf den Fußboden legte, ging für einen Moment alles Gefühl aus den Fingern verloren, denn sie sah die Hand- schrift ihrer Mutter […]. Schnell und immer schneller blätterte Johanna die Seiten durch, ein Buch nach dem anderen, verglich die Daten, schweigend. Und als sie dann endlich ein passendes Datum fand, überflog sie die Einträge auf der Suche nach einem Namen, und als sie diesen endlich entdeckte, war ihr, als schwoll ihre Zunge mit einem Mal im Mund an, füllte ihn aus, zu unbeweglich, um auch nur ein „Ha!« auszustoßen. Sie presste das Papier an sich, ihr eigenes Brustbein jedem Atemzug im Weg. […] Julia drehte sich um, sah Johanna an und stellte erstaunt fest: „Deine Nase ist weiß.“ […] Sie wird Ernst schreiben, dass sie nun weiß, wer ihr Vater ist, und er wird nicht anders können. […] Bevor sie die Mutter anruft, wird sie zum Haus der Eltern von Ernst fahren, wo Johannes gerade den Flug seiner Völker beobachtet. Sie wird ihm, der ganz in seine Tätigkeit versunken ist, auf die Schulter tippen. Er wird sich umdrehen, sie ansehen, und er wird wissen, dass sie weiß. Er wird sie nicht sofort umarmen, aus Furcht, dass Bienen zwischen sie geraten könnten. Sie wird lächeln, wie sie schon die ganze Zeit über lächelt, und er auch, mit den Augen mehr als mit dem Mund, weil er mit diesem lautlos eine Entschuldigung formt, dafür, dass es diesen Moment nicht schon früher gegeben hat. […] In wenigen Wochen wird Johanna ihre Mutter in Peru besuchen und gleich darauf ihren Bruder in Kanada. Mit ihrer Mutter wird sie einem Waisenkind das Haar bürsten […] . Wenn sie wieder nach Hause 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=