Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

432 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt ■■ Bestimmen Sie die unterschiedlichen Erzählperspektiven der Johanna beziehungs­ weise Ernst zugeteilten Abschnitte. ■■ Beschreiben Sie die verschiedenen Aus­ gangspunkte und Ziele der Suche von Johanna und Ernst. ■■ Erläutern Sie Ernsts Bezug auf die langjähri­ ge Tierschützerin und Moderatorin der beliebten ORF-Tiervergabesendung „Wer will mich?“, Edith Klinger, und den „Rummelplatz­ vergleich“. ■■ Interpretieren Sie Ernsts Reflexionen über seine leibliche Mutter und seine Adoptiv­ eltern Sibylle und Johannes. ■■ Deuten Sie die Frage, die er an sich selbst richtet, und Johannas von Ernst vermutete Antwort. ■■ Erschließen Sie die Metaphern „Phönixfeder“ und „Einhornhorn“. …mit Courage vorrücken Doch Ernst gibt nicht auf – „Yi wang wu qian“  – „Mit Courage vorrücken“, so lautet der Titel des entschei­ denden Abschnitts zur Suche nach der Mutter: Ernst hat nach Monaten deren Wohnort ausfindig machen können. Er fliegt nach Xinjiang, in das autonome Ge­ biet der Uiguren. Sein chinesischer Halbbruder emp­ fängt ihn, führt ihn ins Haus. Meine Mutter hatte kein zahnstrotzendes Lächeln. Den ersten Ausdruck in ihrem Gesicht habe ich nicht gesehen, denn es war schummrig im Zimmer, vor dem Fenster hingen bunte Tücher. Ich dachte an einen Harem. Da saß sie also, auf einer Art niedri- gem Sofa, und kam mir zu klein vor, winzig, und ich dachte nur, dass das nicht meine Mutter sein konnte, niemals, sie sah einen Moment lang für mich aus wie ein angsterfülltes Kind. Schon als ich ihren Namen aussprach, wusste ich, dass ich das falsch tat. […] Ich wiederholte ihren Namen, sie sah mich an, und ihre Augen glänzten silbrig wie die eines Tieres. Sie kann dich nicht sehen, sagte mir mein Halbbru- der in mein linkes Ohr, und ich verstand nicht. Sie ist fast blind, fuhr er fort. Ich wollte weinen, ging zu ihr hin, setzte mich neben sie auf das Sofa, ein wenig zu hastig. Mittlerweile habe ich die Szene so oft in Gedanken wiederholt, dass es mir vorkommt, als wäre sie aus einem Film, den ich mir mehr als ein Mal zu oft angesehen habe. Nur ihr Gesicht, das bleibt verschwommen. […] Meine Mutter saß also dort mit ihrem Silberfischblick, konnte mich wohl nur als Schemen wahrnehmen, und dann griff sie nach meiner Hand. Sie weinte nicht, aber ich fühlte ein Schluchzen in diesem Griff und drückte fest zu, als wollte ich ihr damit etwas zu verstehen geben. Meine Mutter murmelte, während die übersetzende Stimme meines Halbbruders wie über Lautsprecher aus allen Zimmerecken zu kommen schien: „Sie sagt, sie hat dich vermisst. Sie sagt, du warst so ein liebes Baby. Dein Vater war ein Han. Wir sind Uiguren. Sie war nicht verheiratet. Sie sagt, sie konnte dich nicht behalten. Sie musste dich hergeben. Sie haben ihr erklärt, dass eine ausländische Frau kommen wird und dich holt. Sie wusste, du würdest ein gutes Leben haben. Es tut ihr leid, dass du deine Geschwister nicht kennenlernen kannst. Sie sagt, wir zwei wären ihre Lieblingssöhne. Sie freut sich, dass wir uns getroffen haben. Sie fühlt, dass du ein guter Mensch geworden bist. Es tut ihr leid, dass es nicht anders ging …“ ■■ Erschließen Sie die Bedeutung der Begriffe „Han“ und „Uiguren“ und die Stellung beider Volksgruppen innerhalb Chinas. ■■ Geben Sie die Beobachtungen und Eindrücke von Ernst wieder, beschreiben Sie die physische und psychische Situation der Mutter. ■■ Erklären Sie die Gründe für die Kindesweg­ gabe. Ernst: …und was kommt nun? „Shijian dào le“, sage ich zu mir selbst. Es ist Zeit, dass es Zeit wird. Nach Hause zu fahren, vielleicht. […] Es ist so: Ich habe mein Handy ausgeschaltet. Mich irgendwohin gesetzt und die Augen geschlos- sen und darauf gewartet, dass es Zeit wird. Dass sich Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 Aufgabe 2 4 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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