Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

431 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt darauf und wandte sich gleich ab. „Nein.“ – Bitte nimm sie in die Hand, schau sie dir genau an!“ – „Nein.“ – „Wieso nicht?“ – „Ich kenne sie nicht. Ich weiß nicht, was das soll.“ Er wirkte ängstlich. […] Sie holte tief Luft, doch dann ließ sie ihren Atem wieder durch die Nase ausströmen, ohne diese eine Frage gestellt zuhaben. Das Datum sagte alles. Johanna musste ihn nicht drängen, etwas zuzuge- ben. ■■ Interpretieren Sie die Antworten der Mutter und des Vaters und die Reaktionen Johannas. ■■ Erläutern Sie, welche eine Frage Johanna an den Vater gar nicht stellen musste. Ernst: Der Chinese und die Mutter Als Johanna den Schock der Postkartenentdeckung zu ertragen hat, befindet sich Ernst schon seit einiger Zeit in China. Der Grund: Seine Eltern – die Mutter Si­ bylle eine Sinologin, der Vater Johannes ein Imker – sind nicht seine Eltern. Ernst ist Chinese, er ist als klei­ nes Kind adoptiert worden. „Ich bin adaptiert“ , hatte er beim Kennenlernen Johannas vor 15 Jahren gesagt, als diese wissen wollte, „wie das denn ginge, dass Ernst Chinese sei und seine Eltern nicht.“ Nun, nach Ab­ schluss seiner Bachelorarbeit auf der Universität, sucht er nach seiner Mutter. Mit Johanna hält er per E-Mail Kontakt. Ernst: Die Suche beginnt Die erste Adresse in China: die Agentur in Shanghai, die Ernst als Baby „vermittelt“ hat. Doch diese Agentur existiert nicht mehr: Was mache ich eigentlich, jetzt, wo die Agentur nicht mehr dort ist, wo sie damals war. Ich meine, falls das jemals eine richtige Agentur gewesen ist, denn was es genau war, wusste ja nicht einmal Sibylle. Sie hat drum herum geredet, als hätte sie mich im Ausverkauf am Wühltisch ergattert und wollte ihren Freundinnen gegenüber nicht zugeben, dass ich so billig gewesen war. Dass man nicht einmal nachfragt, wo das Baby genau herkommt, verstehe ich nicht. Nicht aus Shanghai, hat sie gesagt, sicher nicht aus Shanghai, das weiß sie. Ich wurde vermittelt, richtiggehend vermittelt wie ein traurig dreinschauender Cockerspaniel in der Sendung von Edith Klinger: Biiiiiitte, biiiitte, biiiitte, das arme Kinderl, rufen’s doch an. Vielleicht hat Sibylle mich gewonnen, an irgendeiner Rummel­ bude, so wie ich und Johanna damals die Stoffkuh: Hitze auf dem asphaltierten Platz, ein helloranger Himmel, zwei Lostrommeln vor dem Stand mit den Kuscheltieren. … selten wie Phönixfeder und Einhornhorn Die Suche scheint endlos, Ernst wird von Stelle zu Stelle geschickt, er muss erfahren, dass „ins Ausland gegebene Kinder, die nach zwanzig Jahren ihre Eltern wiederfinden, so selten wie Phönixfeder und Einhorn- horn“ sind. Resignation ergreift ihn und Unsicher­ heit: Im Grunde könnte ich jetzt wieder nach Hause fliegen, das war wohl nichts verkünden und allen weiteren Fragen ausweichen. Ich bin in dieses China hineingegangen, und ich werde auch wieder hinausgehen. Auf eine seltsame Art und Weise bin ich vollkommen in Balance. An jenen Tagen, an denen meine leibliche Mutter mir eine Sehnsucht ist, bin ich überzeugt, ihr gegen ihren Willen entrissen worden zu sein, entführt, und ich wün- sche mir nur ihretwillen, sie zu sehen, um ihr zu sagen: Mutter, sieh her, das ist dein Sohn, es geht ihm gut, er liebt dich unbekannterweise. An den anderen Tagen scheint sie mir wie ein Stück Eis, von dem ich abgeglitten bin, und sie hat mir nachgesehen, ohne Bedauern. An den einen sage ich mir also, sie wird froh sein, dass ich Sibylle und Johannes gefunden habe beziehungsweise die mich, an den anderen bin ich selbst froh, dass Sibylle und Johannes mich gefunden haben beziehungsweise ich sie. Die beiden haben nie etwas falsch gemacht, und dafür kann man ihnen nur dankbar sein […]. Überhaupt ist dieses Land kein Infoschalter, an dem ich mich einfach anstellen kann und fragen, wo denn bitte meine Mutter wohnt und Ach hätten Sie gleich auch ihre Telefonnummer . Oder eben mal bei der Auskunft anrufen: Können Sie in der Liste unglücklich Schwangerer aus den Achtzigern nachsehen, bitte, danke. Nein, der Vater ist mir nicht bekannt. Was, wenn ich sie finde, was dann? […] Wenn du sie findest, wirst es schon wissen, würde Johanna sagen […]. 6 8 10 12 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=