Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
430 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt 18 „‚Eine Bienenlarve bekommt etwa zweitausend mal Besuch von einer Pflegerin, bevor sie schlüpft.‘ – ‚Kommen ihre Eltern auch zu Besuch?‘“ Cornelia Travnicek: „Junge Hunde“ (2015) Cuja-Mara-Split-Cover Es dürfte wohl ein Cuja Mara Split sein, den das Cover von Cornelia Travniceks Roman abbildet – ein Eis für junge Leute. Jung wie die beiden Hauptfiguren Johanna und Ernst, beide seit langer Zeit eng befreundet, beide Anfang zwanzig, beide vor entscheidenden Herausfor derungen stehend, beide (plötzlichen) Veränderungen und Unklarheiten sich gegenübersehend, beide mit Fra gen um Eltern, Familie, Zugehörigkeit, Herkunft kon frontiert. Johanna: Südamerika und die „betreute Wohn gemeinschaft“ Johannas Mutter Michaela hat sich kurz nach dem 18. Geburtstag ihrer Tochter entschlossen, ihrem Le ben eine „neue Richtung zu geben. […] Sie flog davon. Schaffte eine Ziellandung in einem südamerikani- schen Sozialprojekt, sodass man ihr nicht einmal richtig böse sein konnte. Für Johanna hatte die Mutter ohnehin schon früh das Bild eines zerzaus- ten Vogels angenommen. Spatz in der Hand in der einen Situation, Sturmkrähe in der anderen. Zugvogel zuletzt.“ Und da auch ihr Bruder Stefan wenig Hilfe ist, aber zumindest den Vater Herbert ins Heim bringen kann, steht Johanna allein da, als ihr Vater „ zerfasert. Seine Demenz gleicht einem stillen Badesee voller Al- gen, die den in seinem eigenen Geist Tauchenden festhalten, ihn nicht mehr zurück an die Oberfläche lassen.“ Der Vater muss ins Heim, „das man nicht Heim nennt, sondern betreute Wohngemeinschaft, so wie man nun alles anders nennt, damit man so tun kann, als gäbe es die Gedanken dahinter nicht mehr.“ Johanna: Die alte Postkarte und die Mutter Nun, da der Vater ins Heim muss und das „Haus der Bank“ gehört, da der Kredit noch läuft und also veräu ßert werden muss, hat Johanna sich um den Hausver kauf zu kümmern und durch das alte Gerümpel zu wühlen. Aus einem Stapel alter Papiere fällt eine Post karte heraus: Eine handelsübliche Postkarte. Nicht einmal drei ganze Sätze in der Handschrift ihres Vaters, an ihre Mutter gerichtet. Ohne Adresse, ohne Marke, also direkt in den Briefkasten am Haus eingeworfen. Wie schön es gewesen sei, sie, Michaela gestern kennen- gelernt zu haben. Ein Datum. Mehr hatte sie nicht gefunden, mehr hatte sie aber auch nicht finden müssen, um zu verstehen: Ihr Vater hatte ihre Mutter erst kennengelernt, als diese bereits mit Johanna schwanger gewesen war. Ihr Vater war nicht ihr Vater. […] „Dein Vater ist dein Vater, denn er war immer für dich da.“ Das ist der einzige Satz, den Johannas Mutter sich in ihrer E-Mail in Bezug auf die Postkarte abgerungen hat. Johanna lacht, als sie das liest, ein Mal sehr kurz und ausgesprochen laut: „Ha!“ …nochmals der Vater Natürlich sucht Johanna auch Antwort bei ihrem Vater im Heim. Johanna setzte sich zu ihm aufs Bett. „Ich … ich muss dich etwas fragen“, begann sie. – „Ja.“ – „Hier, diese Postkarte, kennst du die?“ Sie streckte ihm ihr Fundstück entgegen, er warf nur einen Blick 2 4 6 8 2 4 6 8 10 12 14 16 2 4 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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