Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

428 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt Der Saal brüllte wie aus einer Kehle. Die Kinder sprangen aus ihren Sitzen hoch, trampelten, klatschten und schrien. Mir war nicht klar, warum dieser Zauberer so schlecht ankam. Alles in allem schien er recht harmlos zu sein. Gar nicht unsympa- thisch. […] Er beobachtete die drei Idioten für einen Moment. Nickte kurz und sondierte nachdenklich die Umgebung. Ich war mir nicht sicher, ob er Kasperls Plan durchschaut hatte. Ob er überhaupt kapierte, was hier eigentlich los war. Und plötzlich war mir klar, dass ich ihn warnen musste. „He, Zauberer!“, schrie ich so laut ich konnte. „Der Kasperl und seine blöden Kumpels wollen dich in eine Falle locken! Die wollen, dass du in ein Loch fällst, und dann wollen sie dich aufspießen und braten und mit deinen Knochen Mikado spielen!“ Der Zauberer schien mich für einen Moment anzusehen. Dann tauchte er ab und es war es still im Saal. Völlige Geräuschlosigkeit. Ich hatte einen dieser magischen Augenblicke geschaffen, an dem eine ganze Halle wie auf ein Kommando einzuatmen scheint und das gemeinschaftliche Gebrüll für ein paar Sekunden erlischt. Nur meine Worte standen hell und klar im Raum. Auch die drei Freunde standen eine Weile regungslos und schweigend im Wald. Kasperl fing sich als erster wieder. „Aha …“, sagte er und ließ ein bisschen unmoti- viert seinen Mützenzipfel kreisen, »Kinder, ist denn der Zauberer wirklich hier gewesen?« „Jaaa!“, schrien alle. „Da müssen wir uns aber was einfallen lassen, oder, Kinder?“, sagte Kasperl und schien jetzt wieder einigermaßen den Überblick zu haben. „Jaaa!“, brüllte der Saal. Und mitten drinnen ich, zitternd vor Wut und hilfloser Aufregung. Diese Idioten. Diese hirnver- brannten Idioten! Offenbar kapierten sie nichts. Nicht das Geringste. Nur ich, ich als Einziger sehe das Unheil nahen. Die Ungerechtigkeit. Die Katastrophe. Und auf einmal geht alles schnell. Die drei Helden stecken ihre Köpfe zusammen, tuscheln, kichern, tun wichtig, beratschlagen sich mit dem Publikum, alle sind sich einig, alle freuen sich, ein weiteres Lied wird gesungen, dazu wird ausgiebig im Kreis getanzt, anschließend versteckt man sich am Bühnenrand und wartet. Tatsächlich erscheint gleich darauf auch wieder der Zauberer. Er zittert ein wenig hilflos mit seinem Zauberstäbchen in der Luft herum und marschiert dann nichts ahnend direkt auf den Picknickkorb zu. Kasperl grinst. Das Publikum feixt. Der Zauberer spaziert nickend und murmelnd auf das teuflische Loch zu. Die Kinder halten den Atem an. Kasperl kichert. Seine Augen glänzen starr wie die Augen eines Raubvogels. Seine Nase ist spitz wie ein Schnabel. Ich spüre, wie mein Herz rast. Meine Stirn brennt. Mein Hemd klebt an der pochenden Brust. Und da halte ich es nicht mehr aus. […] Ich spring auf und klettere auf die Bühne. Mit beiden Händen greife ich in den Wald hinein und kriege den Kasperlkopf zu fassen. Er fühlt sich ungewöhnlich kühl und hart an. Die Augen sind glatt und tot wie Murmeln, der Blick nicht zu ertragen. Ich zerre und reiße an ihm. Sein Körper ist merkwürdig schlank, fest und stark. Er wehrt sich, windet sich, krümmt sich. Doch mein Hass ist stärker. Und meine Angst sowieso. Es gibt einen Ruck, etwas knackst leise, etwas löst sich, und ich stolpere einen Schritt zurück. Da wo eben noch Kasperl hockte, ragt nun eine Hand aus dem Waldboden. Ganz genau sehe ich die behaarten Finger, die kleine rosige Narbe am Daumenansatz und die dunkel geränderten Fingernägel. Dann ist sie weg. In meinen Händen liegt der Kasperlkopf. Seltsam leicht liegt er da. Mit Kragen und Mütze. Aber ohne Körper. Ich schleudere das Ding von mir und falle einfach um. Beschreiben Sie die Aktion des Ich-Erzählers, seine Motivation dafür, das Verhalten der anderen Kinder und der Puppenspieler. Lotte und Tschechows „Möwe“ Es ist nicht der letzte Sprung des „Helden“ auf die Bühne. Der nächste Bühnensprung ist ein Sprung aus Liebe: Denn gerade zur rechten Jugendzeit entdeckt er im Schulhof ein Mädchen, das die Hauptrolle von Anton Pawlowitsch Tschechows „Die Möwe“ für die Theatergruppe der Schule einstudiert. Und gleich ist ihm klar, dass er auch in diese Theatergruppe muss, 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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