Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

427 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt fest, gefangen in dem engen Raum, der eben noch meine Freiheit war. Auf einmal gab es einen Ruck, etwas blubberte und schmatzte laut, direkt vor meinem Gesicht glitt das pulsierende Fleisch auseinander und mit einem weiteren satten Schmatzen rutschte ich ins Freie. Sofort wurde ich gepackt, verdreht und zurechtge- rückt. Etwas zog und zerrte an mir, es gab einen weiteren Ruck, etwas heftiger noch als der erste, und plötzlich baumelte ich kopfüber im Nichts. Das Blut schoss mir in den Kopf und füllte ihn bis zum Platzen aus. Es war eisig kalt, der Lärm überwälti- gend, Licht brannte mein Schädelinneres aus, grell, leuchtend, rosarot, mit einem saugenden Geräusch, einer Art lang gezogenem Seufzen, brachen meine Lungen auf, ein heller Schmerz durchzuckte meinen ganzen Körper, und ich begann zu brüllen. Das Krankenbett ist ein Schlachtfeld, durchtränkt von Blut, Schweiß und allen möglichen anderen Flüssig- keiten. Irgendwie habe ich es geschafft und liege jetzt in ein Tuch gewickelt auf dem leeren Bauch meiner Mutter, faltig, verbeult, vollkommen unbehaart und bläulich-violett. Ich kann das vertraute Darmglu- ckern hören, das dumpfe Schlagen des großen weichen Herzens, leise, gedämpft, wie aus weiter Entfernung. Ganz nah ist meine Heimat und doch so unerreichbar. […] Das also ist das Leben. ■■ Charakterisieren Sie den Ich-Erzähler, wie er sich im ersten Abschnitt vorstellt. ■■ Untersuchen Sie, wie er sein „Auf-die-Welt- Kommen“ sieht. ■■ Setzen Sie diese Beschreibung seiner Geburt in Beziehung zur Schilderung seines Charak­ ters. …und danach viele Dramen, Kämpfe, Komödien Der Kampf gegen die Geburt ist nicht der einzige Kampf, der auszufechten ist. Schon sehr früh muss der Ich-Erzähler erleben, wie seine Mutter stirbt. Sein Va­ ter führt den elterlichen Friseursalon weiter. Irgend­ wann soll der Sohn bei seinem Vater eine Lehre begin­ nen. Als er auf seiner Schule aus Frust die Gipsbüste des Schulpatrons in Stücke zerschmettert, hat er sei­ nen Ruf als bewunderter, von den anderen aber auch gemiedener Sonderling. Einige Seiten später sitzen Vater und Sohn in der Kü­ che beieinander, um nach dem offensichtlichen Schei­ tern des Vorhabens, aus ihm einen Friseur zu machen, die Zukunftspläne zu besprechen. Von dessen Plan, Schauspieler zu werden, ist der Vater so begeistert, wie Eltern es manchmal sind: „‚Scheiße‘, murmelte er kraftlos.“ Das enge Verhältnis des Jungen zum Theater hat schon im Kindergartenalter begonnen, und zwar bei einer Puppenspielaufführung von „Kasperls geraubtes Picknick“: „Da sind ja die Kinder! Seid ihr alle daaa?!“, schrie der Kasperl und ließ den Zipfel seiner Mütze kreisen. Sofort brüllte der komplette Saal einstimmig auf: „Jaaaa!“ Ich blieb still. Dieser Kasperl gefiel mir nicht. Unsympathischer Bursche. Spazierte einfach so im Wald herum, hatte eine Idiotenmütze auf dem Kopf und stellte dumme Fragen. Aber jetzt war er nun mal da und die Kinder auch, und es konnte mit der Geschichte losgehen. Es gab nämlich ein Problem: Eigentlich wollte Kasperl mit seinen Kumpeln Eichhorn und Frosch ein Picknick veranstalten, doch der Picknickkorb war weg. Einfach verschwunden. Und natürlich hatte Kasperl dazu eine eigene Theorie entwickelt: Ein Zauberer sollte hinter der Angelegenheit stecken. Und zwar nicht irgendein Zauberer, sondern der größte, gemeinste und hässlichste Zauberer der ganzen Gegend! Ein Raunen durchlief die Sitzreihen. Eine Welle der Empörung. Entsetzen. Wut. Kasperl hatte natürlich gleich einen Plan. Schnell wurde aus ein paar Blättern und Ästen ein zweiter Picknickkorb gebastelt und danach mit Hilfe des Hauruck-Gebrülls des Publikums eine Grube im Waldboden ausgehoben. Mit einem Seil wurde der Korb hinuntergelassen, die Grube wurde abgedeckt, die Falle war fertig, alle freuten sich, Kasperl klatschte in die fingerlosen Hände, Eichhorn und Frosch machten groteske Sprünge, und es wurde ein Lied gesungen. Die Drei waren so beschäftigt mit ihrer blödsinni- gen Freude, dass sie nicht bemerkten, wie sich im Hintergrund ein paar Zweige teilten und den Blick auf einen graugesichtigen alten Knacker freigaben. 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=