Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
426 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt echter Rinde beklebten Stoffbahnen umspannen meinen Körper, auf meinem Kopf raschelt leise das Laub, meine Äpfel glänzen wie die roten Rotzgesich- ter der Zuschauer. […] „Vor Hunderten … von … äh … Jahren … äh …“ Aus. Der Text ist weg. Wie weggeblasen. Nie da gewesen. Ich stehe hier an der Rampe, dort unten sitzt das Publikum, und ich bin der Apfelbaum, so viel ist klar. Aber was, verdammt nochmal, war vor Hunderten von Jahren losgewesen? „Vor Hunderten … von … äähh …“ Nichts. Ich spüre, wie mir der kalte Schweiß den Rücken hinunterläuft und sich am Unterhosengum- mi zu einem kleinen Rinnsal sammelt. Fast im selben Moment wird mir schwarz vor Augen. […] Ich schnappe nach Luft. Reiße den Mund auf. Die Augen. Werfe den Kopf in den Nacken. Es wird dunkel. Es rauscht in der Baumkrone, die Nacht fällt lautlos vom Himmel, die Sterne verzischen in der tiefen Finsternis, der Boden bricht auf, und ich taumle einem dumpf pochenden Abgrund entgegen. […] Es dauert höchstens ein, zwei Sekunden, dann bin ich wieder bei mir. Aber zu spät. Ich wanke bereits, torkele, versuche einen stabilisierenden Ausfallschritt, rudere mit den Armen, trete auf eine meiner Pappmachéwurzeln, stolpere, verliere das Gleichgewicht und kippe langsam von der Bühne. Gerade noch kann ich erkennen, wie die Kinder nach allen Seiten hin wegspringen. Gleichzeitig schießen mir in rasender Geschwindigkeit Fragen wie leuchtende Schriftbänder durch den Kopf: Warum bin ich hier? Warum stecke ich ausgerechnet in einem Apfelbaumkostüm? Was will ich? Wer bin ich? Was zum Teufel ist nur geschehen?! Im nächsten Moment krache ich mit der Stirn an eine Stuhllehne. In meinem Kopf explodiert ein greller Feuerball, und ich bin weg. 300 Seiten später: Die Ursache des Sturzes, das letzte Kapitel und viel, was dazwischen geschieht Erst gegen Ende des Romans erhellt sich der Grund für den Sturz von der Bühne: Als ich wieder zu mir kam, lag ich ausgestreckt quer über den Stühlen in der ersten Reihe. […] Allmäh- lich konnte ich wieder klarer sehen. Das Licht im Zuschauerraum war an, die Kinder waren ver- schwunden. Ein widerlich-pelziges Geschmacksge- misch von Alkohol, Magensäure und süßlichem Blut füllte meinen Mund. […] „Ich bin umgekippt …“, stammelte ich. „Einfach so … hab wohl das Bewusst- sein verloren … der Kreislauf … oder so…“. „Halt lieber den Mund. Deine Schnapsfahne weht bis hierher“, sagte Janos ruhig. Im letzten Kapitel erfahren die Leserinnen und Leser, dass der namenlose „Held“ nun im Bus Richtung Groß stadt und bedeutender Theaterbühnen sitzt und bis her chronologisch von den Dramen und Komödien sei nes Lebens berichtet hat. Doch zuvor muss es natür lich um die Geburt gehen. Kapitel 2: Die Geburt Mein Weg zumTheater war verschlungen. Unvorher- sehbar. Holprig. Als Kind hasste ich es sogar, angesehen und vorgeführt zu werden. Die Blicke anderer Menschen empfand ich als Zumutung. Nie wollte ich im Mittelpunkt stehen, ich wollte über- haupt nie irgendwo stehen. Ich wollte sitzen, kauern oder zusammengerollt in einer Ecke liegen, irgendwo am Rande der Gemeinschaft, von niemandem beachtet und in der Sicherheit von Schatten und Anonymität. Eigentlich wollte ich nur meine Ruhe, und ich hasste alles, was Licht auf mich werfen konnte: Kerzen, Lampen, Kronleuchter, Schein werfer. Ganz zu Beginn meines Lebens hasste ich sogar das Tageslicht. Mit meiner ganzen Kraft weigerte ich mich, das wohlige Weltall des Mutterbauches zu verlassen. Ich wollte ewig so weiterschweben in der warmen Nacht, nur begleitet vom dumpfen Schlag des großen Herzens über mir, dem gelegentlichen Darmgluckern direkt vor meinem Gesicht und den rätselhaften, gedämpften Geräuschen einer unbekannten Welt jenseits meines Universums. Und ich schaffte es auch ziemlich lange, mich den Wehen und den verschiedenen ärztlichen Bemühungen entgegenzustemmen, siebenunddrei- ßig Stunden lang, um genau zu sein. Doch plötzlich ging alles schnell. Die Wehen rollten immer druckvoller und in immer kürzeren Abständen heran. […] Ein geheimnisvolles, dunkles Rauschen. Überall, unter mir, über mir, in mir. Gleichzeitig begann sich meine Schädeldecke zu verformen, mein Gesicht wurde gequetscht, die Wangen verschoben, die Ohren verfaltet. Und plötzlich ging nichts mehr voran. Für einen unendlich qualvollen Augenblick ging es nicht weiter. Aber auch nicht zurück. Ich rührte mich keinen Millimeter, steckte 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 2 4 6 8 10 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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