Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
418 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt Wettkampf tretend. […] Ein Männerauge signali- siert Erika, sie sollte nicht ein so kurzes Kleid tragen. So schöne Beine hat sie nun auch wieder nicht! […] Erika Kohut entdeckt Walter Klemmer inmitten einer Gruppe von gleichgesinnten Studen- ten in verschiedenen Stadien des Wissens, die miteinander laut herumlachen. Aber nicht über Erika, die sie gar nicht wahrnehmen. Es wird lautstark demonstriert, dass Walter Klemmer heute nicht blaugemacht hat. Er hat sich von dieser Nacht nicht länger ausruhen müssen als von anderen Nächten. Erika zählt drei Jungen und ein Mädchen, das ebenfalls etwas Technisches zu studieren scheint und damit eine technische Novität bildet. Das Mädchen wird von Walter Klemmer fröhlich umschultert. Es lacht laut auf und birgt seinen blonden Kopf kurz an Klemmers Hals, welcher seinerseits einen blonden Kopf zu tragen hat. Das Mädchen kann vor lauter Lachen nicht stehen, wie es mittels Körpersprache aussagt. Das Mädchen muss sich auf Klemmer stützen. Die anderen pflichten ihm bei. Auch Walter Klemmer lacht voll auf und schüttelt sein Haar. Sonne umfängt ihn. Licht umspielt ihn. Laut lacht Klemmer weiter, und die anderen stimmen vollhalsig zu. Was ist denn gar so komisch, fragt ein später Hinzugekommener und muss sofort hell mitlachen. Er wird angesteckt. Es wird ihm etwas in prustenden Stößen geschildert, und nun weiß er erst, worüber er lacht. Er übertrifft die andern noch, weil er eine Zeitspanne an Lachen nachzuholen hat. Erika Kohut steht da und sieht. Sie schaut zu. Es ist heller Tag, und Erika schaut zu. Als die Gruppe genügend gelacht hat, wendet sie sich dem Gebäude der technischen Universität zu, um es zu betreten. Dazwischen müssen sie immer wieder herzlich auflachen. Sie unterbrechen sich selbst durch Lachen. Fenster blitzen im Licht. Ihre Flügel öffnen sich dieser Frau nicht. Sie öffnen sich nicht jedem. Kein guter Mensch, obwohl nach ihm gerufen wird. Viele wollen gerne helfen, doch sie tun es nicht. Die Frau dreht den Hals sehr weit zur Seite und bleckt das Gebiss wie ein krankes Pferd. Keiner legt eine Hand an sie, keiner nimmt etwas von ihr ab. Schwächlich blickt sie über die Schulter zurück. Das Messer soll ihr ins Herz fahren und sich dort drehen! Der Rest der dazu nötigen Kraft versagt, ihre Blicke fallen auf nichts, und ohne einen Aufschwung des Zorns, der Wut, der Leiden- schaft sticht Erika Kohut sich in eine Stelle an ihrer Schulter, die sofort Blut hervorschießen lässt. Harmlos ist diese Wunde, nur Schmutz, Eiter dürfen nicht hineingeraten. Die Welt steht, unver- wundet, nicht still. Die jungen Leute sind gewiss für lange im Gebäude verschwunden. Ein Haus grenzt an das andere. Das Messer wird in die Tasche zurückgelegt. An Erikas Schulter klafft ein Riss, widerstandslos hat sich zartes Gewebe geteilt. Der Stahl ist hineingefahren, und Erika geht davon. Sie fährt nicht. Sie legt sich eine Hand an die Wunde. Niemand geht ihr nach. […] Erikas Rücken, an dem der Reißverschluss ein Stück offensteht, wird gewärmt. Der Rücken wird von der immer kräftiger werdenden Sonne leicht angewärmt. Erika geht und geht. Ihr Rücken wärmt sich durch Sonne auf. Blut sickert aus ihr heraus. Menschen blicken von der Schulter zum Gesicht empor. Einige wenden sich sogar um. Es sind nicht alle. Erika weiß die Rich- tung, in die sie gehen muss. Sie geht nach Hause. Sie geht und beschleunigt langsam ihren Schritt. ■■ Bestimmen Sie, welche Erwartungshaltung Jelinek bei den Leserinnen und Lesern erzeugt, welche Spannung sie aufbaut und wo diese Spannung aufgelöst wird. ■■ Untersuchen Sie, welches Stilmittel den Text prägt. ■■ Deuten Sie die beiden Sätze „Erika weiß die Richtung, in die sie gehen muss. Sie geht nach Hause.“ 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwe ken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=