Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

416 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt Bauern, der aus Klagenfurt stammende Judenmas- senmörder Odilo Globocnik verscharrt worden ist. Warum hast du uns nicht erzählt, auf welchem Boden wir stehen, wenn wir auf den Sautratten über dem Skelett des Nazibluthundes, der sich „Globus“ und „König“ nannte und sich gebrüstet hat mit den Worten „Zwei Millionen ham’ma erledigt!“, wenn wir Kinder mit Eltern, Magd und Knecht die Erdäpfel, den Roggen für das tägliche Schwarz-Brot, den Weizen für das Weiß-Brot, den Hafer für den Futtertrog deiner Zugpferde, für die Onga und für den Fuchs, eingebracht haben oder auf diesem Fleck Erde, in dem die Leiche des Judenmassen- mörders verscharrt worden ist, die reifen Türken- kolben aus dem Maisfeld geerntet, vom langen hochgewachsenen dahinwelkenden zwei Meter hohen Gestänge gebrockt, auf einen Wagen gewor- fen, vor den die schwergewichtige Onga gespannt war mit den schwarzen Totenkränzen der blutsau- genden Bremsen um die vereiterten Augen, und heimgebracht haben und nach der Ernte am Abend im Stall noch gesellig beim Türkenfiedern zusam- mengesessen sind bei ein paar Krügeln Most für die Erwachsenen, Himbeersaft für die Kinder, und ein paar Leute aus dem Dorf gekommen waren und mitgeholfen haben. […] Während wir beim Türkenfiedern im Hintergrund das Schnauben und Kettengerassel der Stalltiere hörten, den Türkenkol- ben die beigefarbenen trockenen Hüllblätter abzogen, den feuchten Bart an den Kolbenspitzen abrissen, grinsend zwischen Oberlippe und Nase klemmten und die unförmigen Kolben mit den vielen gelben Zähnen der Türkenkörner im Wett- streit gegen die gegenüberliegende, gekalkte und von den Stalltieren kotbespritzte Wand warfen, […] erzählten die Erwachsenen, die sich zu diesem Anlaß in unserem Stall eingefunden hatten – man hörte vor allem Männerstimmen und Frauengeki- cher –, Geschichten aus ihrer Kindheit und Jugend, aber vor allem vom Krieg, vom Zweiten Weltkrieg. […] Während die erzählfreudigen Veteranen im noch halbleeren Stall, denn die Stiere, Ochsen und Kälber waren noch auf Sommerfrische in der Innerkrems, auf der „Blutigen Alm“, mit ihren groben Bauernhänden den aus dem Kadaver des Judenmassenmörders gewachsenen Maiskolben der Sautratten raschelnd die trockene Haut abzogen und die gelben Zähne der Türkenkörner entblöß- ten – Jockel! Jockel! Hast g’hört! –, wurde ein Soldat wegen Kameradendiebstahls kahl geschoren, splitternackt ausgezogen und in der Dezemberkälte im Schneetreiben zwölf Stunden lang an einen Pfahl gebunden. Um seinen Hals trug er ein Schild, auf dem stand: „Ich habe meine Kameraden bestohlen!“ Bei einem Bombenangriff, erzählte der Jockel, mein Tate, wurde der Körper eines Soldaten in der Mitte durchtrennt. Die Kameraden faßten den blutenden Oberkörper mit dem auf die Brust hängenden Kopf an den Achseln und setzten ihn unter dem Geklatsche und Gejohle der anderen Soldaten auf einen Gemüseabfallhaufen, auf dem er mehrere Stunden lang aufrecht stehenblieb, bevor der Torso mit dem blaugewordenen Gesicht vornüberkippte und auf den Haufen von Erdapfel- schalen und faulen Tomaten fiel. […] Als du mich, mein Tate, in der neuen Küche schlugst und das Blut aus meiner Nase rann, stand ich stolz und ergriffen in meiner eigenen Blutlache – ich hatte sogar eine eigene Blutlache, mein Vater –, sie gehörte nur mir, ich war also wer! Dein faustdicker Schlag ins Gesicht hat nur dir Angst gemacht und Kummer bereitet, nicht mir, sie war zwar grausam, deine Fotzn, wie die Ohrfeige im Kärntner Dialekt genannt wurde – „Kriegst gleich eine Fotze!“ Ober- und Unterlippe verschieben sich vor Schmerz beim Weinen –, sie war knochenhart, die Ohrfeige von deiner groben Sämannshand aus den Sautratten, wo der Judenmassenmörder verscharrt wurde, ich taumelte, ich hätte umfallen und mausetot sein können, wie eine Maus ist er zerquetscht worden von einer Menschenhand, hätte es dann geheißen! Wie eine Maus! Mein Tate ein Mörder und Totschläger! Ein Kindsmörder! Der Mörder seines eigenen Sohnes! Schade, daß du mich nicht an der kindlichen Schläfe erwischt hast! Mich hätte man auf dem Dorffriedhof mit der Erstkommunionskerze in den zum Gebet gefalteten Händen feierlich begraben können […]. Und dich hätte man in einen gestreiften Anzug gesteckt, am Genick gepackt und vorwärts, über eine Türschwelle gestoßen und lebenslang in eine Gefängniszelle gesperrt, zu Wasser und Brot. […] Man hätte den Spitzanger, deine verfluchten Ochsen, Kälber, Stiere und die ergiebigen Milchkühe verkaufen müssen […] Deinen Pflug mit den stierblutrot gefärbten Pflugscharen hätte man, wärest du im Gefängnis gelandet, ebenfalls verkauft, mit dem du auf den Sautratten über dem Skelett des Odilo Globocnik – „Zwei Millionen ham’ma erledigt“ – die Erde gelockert und die dunkel 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigen um des Verlags öbv

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