Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

415 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt vernichten bei diesen Besuchen das Kunstinteresse der ihnen anvertrauten Schüler für immer, das ist eine Tatsache. Die Lehrer verderben die Schüler, das ist die Wahrheit, das ist eine jahrhundertealte Tatsache, und die österreichischen Lehrer insbeson­ dere verderben in den Schülern vor allem von Anfang an den Kunstgeschmack; alle jungen Menschen sind ja zuerst aufgeschlossen allem gegenüber, also auch der Kunst, aber die Lehrer treiben ihnen die Kunst gründlich aus; die in der Überzahl stumpfsinnigen Köpfe der österreichi- schen Lehrer gehen auch heute immer rücksichtslos vor gegen die Sehnsucht ihrer Schüler nach Kunst und überhaupt nach dem Künstlerischen, von welchem alle jungen Menschen von Anfang an auf die natürlichste Weise fasziniert und begeistert sind. Die Lehrer sind aber durch und durch kleinbürgerlich und gehen instinktiv gegen die Kunstfaszination und Kunstbegeisterung ihrer Schüler vor, indem sie die Kunst und überhaupt alles Künstlerische auf ihren eigenen deprimieren- den stupiden Dilettantismus herunterdrücken und in den Schulen die Kunst und das Künstlerische überhaupt zu ihrem ekelhaften Flöten und genauso ekelhaften wie stümperhaften Chorgesang machen, was die Schüler abstoßen muß. […] Auch ich habe diese Lehrer mit ihrem perversen Flötenspiel und mit ihrem perversen Gitarren­ gezupfe gehabt, die mich gezwungen haben, ein stupides sechzehnstrophiges Schillergedicht auswendig zu lernen, was ich immer als eine der fürchterlichsten Bestrafungen empfunden habe. Auch ich habe diese Lehrer mit ihrer insgeheimen Menschenverachtung als Methode gegenüber ihren machtlosen Schülern gehabt, diese sentimental-pathetischen Staatshandlanger mit dem erhobenen Zeigefinger. Auch ich habe diese schwachsinnigen Staatsvermittler gehabt, die mir wöchentlich mehre- re Male mit dem Haselnussstock die Finger ge- schwollen geschlagen und meinen Kopf an den Ohren in die Höhe gezogen haben, so dass ich aus den heimlichen Weinkrämpfen nicht mehr heraus- gekommen bin. Heute ziehen die Lehrer nicht mehr an den Ohren und sie schlagen auch nicht mehr mit Haselnussstöcken auf die Finger, aber ihr Ungeist ist derselbe geblieben […]. 11 „Lieber Tate! Böser Tate! Warum hast du geschwiegen …“ Josef Winkler: „Laß dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe“ (2018) Der Acker, der Vater, das Schweigen Mai 1945: Der für die Ermordung von Millionen Men­ schen, vor allem Jüdinnen und Juden, verantwortliche SS-Mann Odilo Globocnik versteckt sich mit anderen SS-Leuten auf einer Alm in der Nähe des Kärntner Wei­ ßensees. Sein Plan ist es, sich mithilfe von Ortskundi­ gen nach Italien schleusen zu lassen, um der Verhaf­ tung und Anklage als Kriegsverbrecher zu entgehen. 31. Mai: Ein britisches Kommando nimmt die Gruppe fest, bringt sie zum Verhör nach Paternion. Gegen 11:30 vergiftet sich Globocnik mit einer Kapsel Zyanka­ li. Der Pfarrer verweigert die Bestattung des Verbre­ chers auf dem Friedhof. Dieses letztere Faktum bildet den Ausgangspunkt von Winklers Roman in Form von Briefen an seinen toten Vater, den „Tate“. Sie finden hier den Beginn und einen weiteren Abschnitt in Origi­ nalschreibung. Lieber Tate! Böser Tate! Warum hast du geschwie- gen, warum hast du es wohl verschwiegen, denn du mußt, wie all die anderen Dorfleute, wenn du uns deine Kriegserlebnisse und Kriegsabenteuer erzählt hast, vor allem zu Allerheiligen und Allerseelen, zu Ostern oder im Frühherbst beim gemeinsamen Türkenfiedern 1 im Stall, vor dem Almabtrieb oder wenn wir auf den Feldern gearbeitet haben, auf dem „Spitzanger“, dem „Kirchenfeld“ und auf den „Sautratten“ – du mußt es gewußt haben, gib’s zu, mein Tate –, daß im Kärntner Drautal, in dem wir aufgewachsen sind, unweit von unserem kreuzför- mig gebauten Heimatdorf Kamering, auf den Sautratten, einem Gemeinschaftsfeld von mehreren 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 2 4 6 8 10 12 14 1 Gemeinschaftliches Entfernen der Deckblätter der Maiskolben; Mais wurde (wird) oft als „Türken“ bezeichnet. Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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