Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
414 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt ist, nennen kann. Ich kenne keinen andern. Kein Mensch hat seine Übertreibungskunst jemals so auf die Spitze getrieben, habe ich zu Gambetti gesagt und darauf, dass ich, wenn man mich kurzerhand einmal fragen wollte, was ich denn eigentlich und insgeheim sei, doch darauf nur antworten könne, der größte Übertreibungskünstler, der mir bekannt ist. Darauf ist Gambetti wieder in sein Gambetti lachen ausgebrochen und hat mich mit seinem Gambettilachen angesteckt, so lachten wir beide […] an diesem Nachmittag, wie wir noch niemals vorher gelacht hatten. Aber auch dieser Satz ist natürlich wieder eine Übertreibung, denke ich jetzt, während ich ihn aufschreibe, und Kennzei- chen meiner Übertreibungskunst. […] Je älter ich werde, desto mehr flüchte ich in meine Übertrei- bungskunst, habe ich zu Gambetti gesagt. […] Der Maler, der nicht übertreibt, ist ein schlechter Maler, der Musiker, der nicht übertreibt, ist ein schlechter Musiker, sagte ich zu Gambetti, wie der Schriftstel- ler, der nicht übertreibt, ein schlechter Schriftsteller ist, wobei es ja auch vorkommen kann, dass die eigentliche Übertreibungskunst darin besteht, alles zu untertreiben, dann müssen wir sagen, er übertreibt die Untertreibung und macht die übertriebene Untertreibung so zu seiner Übertrei- bungskunst, Gambetti. Das Geheimnis des großen Kunstwerks ist die Übertreibung, habe ich zu Gambetti gesagt […]. ■■ Analysieren Sie, worin der Ich-Erzähler die Notwendigkeit und zugleich das Wesentliche von Literatur und Kunst sieht. ■■ Erläutern Sie, welches für Bernhards Gesamt werk charakteristische Stilmittel den Text kennzeichnet. Bernhard als Patriot? Bernhards Literatur will irritieren, satirisch übertrei ben, Widersprüche artikulieren und provozieren, Unge wissheiten erzeugen, nicht lösen, und sie sieht sich selbst als Teil dieses Widersprüchlichen und Ungewis sen. So können bedeutende Denker wie der katholi sche Philosoph Friedrich Heer den Autor sogar als „ös- terreichischen Patrioten“ bezeichnen, der mahnt, dass Österreich von seinen Traditionen her eine wichtigere geschichtliche und kulturelle Rolle in der Welt spielen könne, als es die Auseinandersetzungen der Tagespo litik zulassen. Noch im letzten Interview Bernhards kann man in der Art der Bernhard´schen Pointierung und Übertreibung lesen: „Jeder liebt sein Land. Ich auch. Nur den Staat mag ich nicht.“ Nicht zu vergessen ist außerdem, dass Bernhard sich auch als Humorist begriff, der, so der Autor wörtlich, seine Heimat als „Weltkomödie Österreich“ sah. ■■ Lesen Sie folgenden Ausschnitt aus dem Roman „Alte Meister“, in dem der Musikphilosoph Reger und der Privat gelehrte Atzbacher ihre Beobachtungen im Kunsthistorischen Museum in Wien machen. ■■ Fassen Sie zusammen, welches Anliegen der „Übertreibungskünstler“ Bernhard formuliert. Österreicher, insbesondere Wiener, gehen nur weni- ge ins Kunsthistorische Museum, wenn ich von den Tausenden von Schulklassen absehe, die jedes Jahr ihren Pflichtbesuch im Kunsthistorischen Museum absolvieren. Die Schulklassen werden von ihren Lehrern oder Lehrerinnen durch das Museum geführt, was auf die Schüler eine verheerende Wirkung ausübt, denn die Lehrer würgen bei diesen Besuchen im Kunsthistorischen Museum jede Empfindsamkeit in diesen Schülern der Malerei und ihren Schöpfern gegenüber mit ihrer schulmeisterlichen Beschränktheit ab. Stumpfsin- nig, wie sie im allgemeinen sind, töten sie in den ihnen anvertrauten Schülern sehr bald jedes Gefühl nicht nur für die Malkunst, und der von ihnen angeführte Museumsbesuch ihrer sozusagen unschuldigen Opfer wird durch ihre Stumpfsinnig- keit und dadurch stumpfsinnige Geschwätzigkeit meistens zum letzten Museumsbesuch jedes einzelnen Schülers. Einmal mit ihren Lehrern in das Kunsthistorische Museum hineingegangen, gehen diese Schüler dann ihr ganzes Leben nicht mehr hinein. Der erste Besuch aller dieser jungen Menschen ist zugleich ihr letzter. Die Lehrer 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 Aufgabe Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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