Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

413 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt 10 „Wir steigern uns oft in eine Übertreibung hinein.“ Thomas Bernhard: „Auslöschung“ (1986) „Thomas Bernhard ist ohne Österreich nicht zu denken“ Mit diesem Satz beginnt die österreichische Litera­ turkritikerin Sigrid Löffler ihre Auseinandersetzung mit dem Werk Thomas Bernhards. Tatsächlich spielen alle seine mehr als zwanzig epischen Werke in Öster- reich, angefangen mit Bernhards erstem Roman „Frost“ (1963) über die autobiografischen Kindheits- und Jugenderinnerungen „Die Ursache“ (1975), „Der Keller“ (1976), „Der Atem“ (1978), „Die Kälte“ (1981), „Ein Kind“ (1982) über „Alte Meister“ (1985) bis zu „Auslöschung“ (1986). Die Schauplätze lassen sich zu­ meist leicht in jedem Österreich-Atlas auffinden: Salzburg, Wien, Orte in Oberösterreich. Das Gleiche gilt für nahezu alle seine Dramen. Hier in Österreich agieren seine „Helden“, ausgeliefert an ihre Umge­ bung. Diese schildert Bernhard als politisch verkom­ men, noch immer in die NS-Ideologie verstrickt, von habsburgischen und katholischen Traditionen gefes­ selt. Die Landschaften sind für den Tourismus zer­ stört. Aus diesem Milieu, das durch Familie, Dorf, Stadt, die soziale Umgebung, Kulturschickeria und schließlich den Staat repräsentiert wird, versuchen Bernhards Helden auszubrechen. Doch sie sind keine strahlenden Helden. Ihr Außenseitertum hat sie zu maßlosen Exzentrikern gemacht, sie sind ungerecht und pauschal in ihren Angriffen und Urteilen, oft krank, geisteskrank, lungenkrank, oder manchmal auch kriminell. Die Helden der Theaterstücke sind oft gescheiterte Künstler, Tyrannen, narzisstisch und un­ freiwillig komische Schwätzer. Thomas Bernhard anders – „richtig“ – lesen! Es ist nicht verwunderlich, dass ein solches Werk schnell als gnadenlose Österreichbeschimpfung auf­ genommen werden kann. Bei unvoreingenommener Lektüre Bernhards erweist sich eine solche Etikettie­ rung jedoch als pauschal und falsch. Zunächst sind Bernhards Figuren, die Träger von Kritik und Be­ schimpfung, selbst keine unanzweifelbaren Charak­ tere und bieten sich nicht als Identifikationsfiguren an, deren Sätze unbedingten Wahrheitsanspruch an­ melden können. Zweitens zerstören die Figuren ihre Aussagen immer wieder und stellen ihnen Sätze ge­ genüber, die das Gesagte aufheben und Gegenteili­ ges behaupten. So ist in „Auslöschung“ zum Thema Erziehung auf dem Land die Rede von der sich „auf den heranwachsenden Menschen grausam und ent- setzlich auswirkenden Machtmischmethode“ , von „ka- tholisch-nationalsozialistischen Erziehungsmetho- den“ . Es seien die „in Österreich normalen, die übli- chen, die am weitesten verbreiteten. […] Das ist die österreichische Wahrheit.“ Einige Seiten weiter heißt es hingegen, dass auf dem Land „alles auf die natür- lichste Weise vor sich geht und tatsächlich mensch- lich“ . Drittens sind sich die Figuren ihrer Aussagen selbst oft nicht sicher, sie schränken diese oft ein durch Relativierungen wie „wie gesagt wird“ , „wie ich sagen muss“ , „so genannt“ , „habe ich mich gefragt“ , „habe ich gedacht“ . Schließlich setzt der Autor auf eine ganz bestimmte Art des Schreibens, wie folgende Passage aus „Auslöschung“ zeigt. Die Hauptperson, der aus der Enge seines österreichi­ schen Familienschlosses Wolfsegg nach Rom ge­ flohene Murau, spricht mit seinem Freund Gambetti über die Literatur: Wir steigern uns oft in eine Übertreibung derartig hinein, habe ich zu Gambetti später gesagt, dass wir diese Übertreibung dann für die einzige folgerichtige Tatsache halten und die eigentliche Tatsache gar nicht mehr wahrnehmen, nur die maßlos in die Höhe getriebene Übertreibung. Mit diesem Übertreibungsfanatismus habe ich mich schon immer befriedigt, habe ich zu Gambetti gesagt. […] Meine Übertreibungskunst habe ich so weit geschult, dass ich mich ohne weiteres den größten Übertreibungskünstler, der mir bekannt Thomas Bernhard auf seinem Vierkanthof in Ohlsdorf (Oberösterreich), Foto, 1981 2 4 6 8 10 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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