Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

411 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt 9 „Beiden Eheleuten lag etwas im Bauch: Elisabeth war schwanger, Johannes hatte einen Bandwurm.“ Vea Kaiser: „Blasmusikpop“ (2012) Es beginnt beim Holzfällen Sommerbeginn 1959, im Wald von St. Peter am Anger, einem 500-Einwohner-Dorf in den „Sporzer Alpen“, „ be- wohnt von einer eigentümlichen Menschenspezies “. Ei­ ner aus diesem Dorf, der Holzschnitzer Johannes Ger­ litzen, verletzt sich beim Holzfällen. Ein Stamm poltert auf ihn zu: … Die anderen Holzfäller dachten, jetzt sei er hin, und ihre Herzen machten vor Erleichterung einen Satz, als Johannes Gerlitzen aus dem Unterholz auftauchte und in einem Atemzug Teufel und Dreifaltigkeit verfluchte. Elisabeth Gerlitzen fluchte gleichermaßen, als Franz Patscherkofel und Leopold Kaunergrat ihren Ehemann in die Küche brachten, der ein Taschentuch zwischen den Zähnen stecken hatte und auf zwanzig Meter nach Schnaps stank – drei Viertel der Flasche hatten ihm die Holzfäller zur Schmerzbetäubung eingeflößt. Doch die Verletzung – eine ausgerenkte Schulter und ein gebrochener Arm – bringt auch Vorteile: … Die beiden genossen mehrmals täglich die Freiheit, sich nicht wie in ihrer Jugend in Heustadeln, Holz- schupfen und Selchkammern verrenken zu müssen. Bis ihnen übel wurde. Mit Johannes fing es an, er hat- te ständig Bauchschmerzen, die zu schweren Verdau- ungsbeschwerden führten. Bald darauf hustete Elisa- beth morgens alle Mahlzeiten des Vortages ins Plumpsklo hinterm Haus. Auf der Kirchenstiege meinten die einen, Elisabeth würde schlecht kochen, während die anderen am Springbrunnen erzählten, Johannes würde Elisabeth und sich zu viel Schnaps genehmigen. Erst als der ziegengesichtige Doktor aus Lenk im Tal seine zweimonatliche Sprechstunde im Versammlungssaal des Gemeinderats abhielt, wurde das Rätsel gelöst. Beiden Eheleuten lag etwas im Bauch: Elisabeth war schwanger, Johannes hatte ei- nen Bandwurm. Die Befreiung, die Folgen und die mutige Elisabeth Als Johannes vom Wurm befreit wird und „tags darauf der gewaschene Bandwurm vor ihm lag, ganze 14,8 Meter lang und in etwa so breit wie Elisabeths Ring­ finger“, beschließt er, da er mehr über den Wurm wis­ sen will, in die „große Stadt“ zu gehen, um dort Medi­ zin zu studieren. Elisabeth bleibt im Dorf, stoppt, was keiner der Männer konnte, einen Traktor, der mit ho­ hem Tempo in einen der Höfe gekracht wäre – sie war immer schon die Mutigste und als einziges Mädchen Mitglied der Bubenbande des Dorfes, denn nur sie hatte sich getraut, als Mitgliedschafts- mutprobe von einer Nacktschnecke abzubeißen. Die- ses Aufnahmeritual hatte sie bravouröser bestanden als die Bandenführer, die selbst ausgespuckt oder ge- spien hatten – nur Elisabeth hatte auf dem glit- schig-weichen Hinterteil herumgekaut und völlig un- beeindruckt festgestellt: „Voi salzig!“ 50 Jahre später … beschließt ihr Enkel, auch ein Johannes, seinem Vor­ bild Herodot zu folgen und die Geschichte der „Berg­ barbaren“ von St. Peter niederzuschreiben, denn jene Bergbarbaren aus St. Peter haben im Laufe der Jahrhunderte Sitten und Gebräuche entwickelt, die der zivilisierte Leser erfahren soll, und vor allem möchte ich skizzieren, wieso sie so sind, wie sie sind, woher sie stammen und wie es kam, daß sie gegen die Zivilisier- ten Krieg führten. […] Was ich im folgenden über die Urzeit der Ureinwohner berichte, habe ich aus vielen Mythen und Erzählungen recherchiert, und manches erscheint mir nicht ganz glaubhaft, doch bin ich als Geschichtsschreiber ver- pflichtet zu verkünden, was ich herausfand. Es heißt, wer die Ureinwohner jenes Bergbarbarendorfes namens St. Peter am Anger waren und woher sie kamen, hätten diese im Moment der Dorfgründung bereits vergessen. Ihre Sprache sei aufgrund der langen Wanderschaft zu einem unregelmäßigen Mischmasch aller Alpendialekte geworden, und da sie sich oft verirrt hätten, durch Zeitlöcher gepurzelt seien, den Eingang zur Hölle ge- funden hätten, vor Lindwürmern geflüchtet und jahre- lang von einer Sintflut in einem Hochtal festgehalten worden seien, wo sie nichts als hellgelbe Beeren und dunkelblaue Blätter gegessen hätten, hätten sie sogar vergessen, wieso sie eigentlich aufgebrochen seien. […] Auf den Angerberg seien sie letztlich nicht durch das Tal im Süden, sondern über die Gletscherkette im Nor- 2 4 6 8 10 2 4 6 8 10 12 14 16 2 4 6 8 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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