Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
409 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt weiß. Man hat es ihr am Jugendamt gegeben. Sie hat mir das Bild geschenkt. In der Nacht bin ich aufge- wacht, und mir ist blitzartig eingefallen, wo ich das Bild gesehen habe: in der Kommode im Schlafzim- mer der Eltern, unter den alten Fotos und den Tage- büchern. Nur ist da das Foto zusammen mit einem Artikel gewesen. Ich habe sofort wissen wollen, ob ich recht hab. Mit meiner Taschenlampe bin ich ins Elternschlafzimmer geschlichen und habe so leise wie möglich die Schublade aufgemacht. Den Zeitungsar- tikel habe ich schnell gefunden, er ist ganz oben gele- gen. Und es ist wirklich das Bild weggeschnitten ge- wesen. Ich habe den Artikel mitgenommen in mein Zimmer und immer wieder gelesen. Ich habe jetzt gewusst, dass meine Mutter Paulina geheißen hat und dass sie einfach verschwunden ist. Dass sie wahr- scheinlich ausgewandert ist und mich zurückgelassen hat. Bis dahin habe ich geglaubt, sie ist gestorben, bei einem Autounfall. Ich habe sie mir immer tot in ei- nem Sarg vorgestellt. Der Zeitungsartikel TIROLER TAGESZEITUNG AM 24. MAI 1973 Junge Frau spurlos verschwunden Zweieinhalbjährigen Sohn alleine in der Wohnung zu- rückgelassen INNSBRUCK. Seit der Nacht von Montag auf Diens- tag fehlt von der zweiundzwanzigjährigen Paulina S. jede Spur. Ein Nachbar alarmierte die Polizei, nach- dem er das Weinen des zweieinhalbjährigen Buben, der in der Wohnung eingeschlossen war, gehört hatte. Das Kind wurde vorläufig im Landeskinderheim Axams untergebracht. Bekannte vermuten, dass die labile junge Frau ihren Traum von einer Auswande- rung wahr gemacht hat. In der Wohnung wurde ein kurzer Abschiedsbrief gefunden, und es fehlen alle Dokumente sowie der Reisepass, ein Koffer, Klei- dungsstücke und andere private Dinge. Dennoch bit- tet die Polizei um Hinweise aus der Bevölkerung. Paulina S. ist 1,70 groß, schlank, hat dunkle Haare und Augen. Beschreiben Sie die Situation Alexanders nach der Geburt von Andreas, seine Vermutungen über die Mutter bis zum Auffinden des Zeitungs artikels und die Annahmen von Polizei und Bekannten über ihr Verschwinden. Der kleine Bub und seine Träume /Ausschnitt aus einem Therapiegespräch im Jänner 1990 zwischen „Dr. Z.“ und Alexander/ Wie ich ganz klein war, habe ich fast jede Nacht schlecht geträumt, so fünf oder sechs bin ich da ge- wesen. An die Träume denke ich jetzt noch manch- mal. Ich bin dann ganz verschwitzt aufgewacht und habe geschrien. Sogar wie ich schon in der Haupt- schule war, habe ich beim Einschlafen Angst gehabt, dass die Träume von der Hexe wiederkommen. Es war eigentlich immer der gleiche Traum. Eine Hexe hat mich im Wald verfolgt und dann in eine kleine Hütte gesperrt. Sie hat grausig ausgeschaut. Ihr Ge- sicht ist grau und faltig gewesen, überall hat sie so – so rote Pusteln gehabt und auf der riesigen Haken- nase eine große Warze. Die Zähne sind groß gewe- sen, so vorstehend, und total verfault, ihr Kopftuch war rot-schwarz gemustert, und ihr langer Mantel ist ganz schwarz gewesen. Die Augen haben rot ge- leuchtet. Sie hat mir im Wald aufgelauert und ist mir dann nachgelaufen. Und das Schlimmste im Traum war, dass ich nicht habe laufen können! Ich bin nicht vom Fleck gekommen. Da hat man panische Angst und will nur weg und kommt nicht weg. Die Hexe ist jedes Mal schnell gewesen und hat mich von hin- ten im Nacken gepackt und dabei so furchtbar ge- lacht. In dem Moment, wo sie mich gepackt hat, bin ich vor Angst fast gestorben. Sie hat mich in eine kleine Holzhütte gesperrt. In der ist es so dunkel ge- wesen, es hat kein Fenster gegeben. Da bin ich dann am Boden gehockt und habe nur gefroren, vor lauter Kälte habe ich gebibbert. Und der Hunger und der Durst sind dazugekommen. Aber am schlimmsten ist die Angst gewesen, dass die Hexe zurückkommt und mich auffrisst. Ich habe alles probiert, damit ich aus der Hütte komme, aber die Tür ist von außen fest verriegelt gewesen. Ganz lang bin ich in der Hütte gesessen, und die Kälte und den Durst und 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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