Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

408 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt Die Priester gingen wie böse Stiere, die man mit verbundenen Augen in das Schlachthaus führt, durch die Tage. Von der Kanzel herunter verboten sie den vorehelichen Geschlechtsverkehr und schauten in die Dienstbotengesichter, denen außer Arbeiten alles verboten war. Heiraten, hieß es, kann nur, wer etwas hat. Aber die Dienstboten hatten nichts als ihre Not, sie waren arm wie die Urchristen, aber längst keine Christen mehr. Sie gingen ja nur in die Kirche, weil sie mussten, weil die Bauern sie sonst hätten verhun- gern lassen. Wer sich weigerte, am Sonntag in die Kirche zu gehen, wurde noch am selben Tag vom Hof gejagt. Das gleiche galt, wenn einer etwas auszusetzen hatte. Wenn jemand etwas zu bemän- geln hatte, war das der Bauer. ■■ Erklären Sie, mit welcher zweimal verwende­ ten Metapher Innerhofer das schwere Leben der Dienstboten kennzeichnet, und welche konkreten Beispiele deren soziale Situation zeigen. ■■ Untersuchen Sie, worin der Autor die Hauptursachen sieht, weshalb die Dienst­ boten ihr Wissen um ihre Ausbeutung nicht zu Taten umsetzen und ihre Lage verändern können. ■■ Beschreiben Sie die Rolle der Kirche. 8 „Für mich ist das alles unfassbar!“ Judith W. Taschler: „Sommer wie Winter“ (2011) Therapiegespräche über das Unfassbare – und Winter und Sommer sind nicht nur Jahreszeiten Für mich ist das alles unfassbar! Ich kann es immer noch nicht glauben, dass das unserer Familie passiert! Am Anfang habe ich es auch nicht geglaubt, ich habe es wirklich nicht geglaubt, wie die Mutter zu mir ge- kommen ist, sie ist kreidebleich im Gesicht gewesen, und gestammelt hat: Die Gendarmerie hat angerufen, die Manu und der Alexander liegen schwer verletzt in der Klinik und der Vater ist – Wer hier im Jänner 1990 im Therapiegespräch mit dem Psychologen „Dr. B.“ sein Entsetzen ausdrückt, ist die 24-jährige Anna Winter. Sie, die 21 Jahre alte Martina und Manuela (19) sind die Stiefgeschwister von Ale­ xander Sommer, ebenfalls 19. Alexander ist mit drei Jahren als Pflegesohn von Familie Winter aufgenom­ men worden. Vor Kurzem haben die Winters eine Tou­ ristenpension an den Bauernhof angebaut. Der Unfall, über den Martina so entsetzt ist, und dessen Ursachen bleiben für die Leserinnen und Leser zunächst diffus. Doch von Anfang an ist klar: Schreckliches ist gesche­ hen. Schritt für Schritt enthüllen die Therapiegesprä­ che mit den Mitgliedern der Familie Winter – ausge­ nommen bleibt der Vater –, welche die einzelnen Kapi­ tel des Buches bilden, Unfassbares. Das große Schweigen /Ausschnitt aus einem Therapiegespräch im Jänner 1990 zwischen „Dr. Z.“ und Alexander/ Sie haben nie erlaubt, dass ich nach meiner Herkunft frage. Ich habe nur gewusst, dass sie mich als Pflege- sohn aufgenommen haben, wie ich fast drei gewesen bin, weil der Vater neben den drei Mädels einen Bu- ben wollte. Der Andreas ist dann geboren worden, da bin ich acht gewesen. Von da an bin ich Luft für den Vater gewesen. Ich kann mich noch genau erinnern, wie die Mutter vom Krankenhaus heimgekommen ist. Der Vater hat das Baby ins Haus getragen und der Anna, der Martina und der Manu gezeigt. Ich habe mich unter dem Bett versteckt, weil ich gedacht habe, sie schicken mich weg. Jetzt ist ja der echte Sohn da gewesen. Die Mutter ist aber wieder an mein Bett ge- kommen. Sie hat mir ein kleines Bild in die Hand ge- drückt. Es ist so aus einer Zeitung ausgeschnitten ge- wesen, und das Gesicht von einer jungen Frau mit dunklen Haaren war drauf. Ich habe sofort gewusst, das Bild habe ich schon mal gesehen. Mir ist aber nicht eingefallen, wo. Das ist deine richtige Mutter, hat sie gesagt, ein anderes Bild haben wir nicht. Ich habe gefragt, wieso es aus der Zeitung ist, aber sie hat den Kopf geschüttelt und gesagt, dass sie es nicht 38 40 42 44 46 48 50 Aufgabe 2 4 6 8 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum d s Verlags öbv

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