Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

392 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt Die Literaturübersicht Eine Vielzahl von Themen und Stilen Der Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Sprache Sprache kann manipulieren Unsere Sprache hat viele Funktionen: Sie informiert, drückt Emotionen aus, stellt soziale Kontakte her – „Schönes Wetter heute!“ – unterstützt das Denken – „Jetzt kürze ich einmal den Bruch, dann …“. Aber sie kann auch manipulieren. „Die Verhexung unseres Ver- standes durch die Mittel unserer Sprache“ hatte der Phi­ losoph Ludwig Wittgenstein die Beeinflussung durch die Sprache genannt. Nicht immer liegt die manipulati­ ve Anwendung der Sprache so klar zutage wie bei den folgenden „Unwörtern“: „Rentnerschwemme“, „sozial verträgliches Frühableben“ – wie lange sollen die Kas­ sen Medikamente für alte Leute bezahlen? –, „Wohl­ standsmüll“ – nicht vermittelbare Arbeitslose – oder „Menschenmaterial“. Auch simple Leerformeln wie „Da kann man nichts machen“, Phrasen der Werbung, der Medien und der Politik sind Instrumente der Manipula­ tion, vor allem weil diese Phrasen gar nicht mehr auf­ fallen und die alltägliche Sprache prägen. Die österrei­ chische Literatur der Gegenwart setzt die Tradition der Sprachkritik, die mit Karl Kraus – siehe S. 277 ff. – einen ersten Höhepunkt erreicht hatte, intensiv fort. Peter Handkes Stücke „Publikumsbeschimpfung“ und „Kas­ par“ und sein Roman „Wunschloses Unglück“ (1) zeigen, wie mit der Sprache Herrschaft über den Einzelnen ausgeübt werden kann. Zu den beharrlichsten Kritike­ rinnen manipulativer Sprache gehört Ingeborg Bach- mann . „Ein Schriftsteller hat Phrasen zu vernichten“ , so lautet ihre Forderung. Literatur müsse „ein tausendfa- cher Verstoß gegen die schlechte Sprache“ sein. Ihr Ge­ dicht „Reklame“ gilt als klassisches Beispiel für ihre Sprachkritik. Der Text „Ikea“ von Franzobel (*1967) führt Bachmanns Anliegen in die Gegenwart (2) . Der Einfluss von Ludwig Wittgensteins „Tractatus“ Autorinnen und Autoren wie Bachmann und Handke, die in der Sprachkritik eine wichtige Aufgabe der Lite­ ratur sehen, haben sich intensiv mit den Sprachphilo­ sophien des „Wiener Kreises“ und Ludwig Wittgen­ steins befasst. Für diese Philosophen sind Denken und Sprache untrennbar miteinander verbunden. In sei­ nem „Tractatus logico-philosophicus“ (1921) bemüht sich Wittgenstein, Kriterien für „wahre“ und „falsche“ Sätze aufzustellen. Grundkriterium ist, dass Sätze überprüft werden können. „Wahr“ sind demnach Sätze, die einen Sachverhalt präsentieren, der nicht nur in der Wortanordnung, sondern auch in Wirklichkeit be­ steht. „Falsch“ sind Sätze, die zwar grammatisch rich­ tig sind, deren Sachverhalt aber nicht in der Wirklich­ keit besteht. Skeptisch sind die Philosophen vor allem gegenüber Sätzen metaphysischer und religiöser Art und gegenüber Leerformeln, in denen die einzelnen Vokabel in unterschiedlichster Weise aufgefasst wer­ den können und deshalb beliebig sind. Dies wider­ spricht nämlich dem Ziel, dass Begriffe und Wörter überprüfbar sein sollen. Religiös-Mystisches mag es geben, doch ist es unaussprechlich. „Die einzige Me- thode […] wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt […], und dann immer wenn ein ande- rer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzu- weisen, dass er gewissen Zeichen [= Wörtern] in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. […] Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Mit diesen berühmten Ratschlägen zu vorsichtigem, überprüfbarem Sprachgebrauch endet der „Tractatus“. Das neue Theater Die Freude an der Provokation In den späten 60er-Jahren erscheint eine Reihe von Theaterstücken auf der Bühne, die auf die Schockie­ rung des Publikums setzen. Schon Handkes Dramen „Publikumsbeschimpfung“ und „Kaspar“, die keine Handlung boten, sondern das Sezieren der alltägli­ chen Sprache zum Gegenstand hatten, wirkten für den „durchschnittlichen“ Theatergeher als Herausforde­ Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus - Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=