Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
385 Literatur zwischen 1945 und 1968 Die vielen Funktionen der Literatur Literatur dient zur Entspannung, sie vermittelt Wissen, sie regt zur Kritik an und liefert Stoff für Gespräche … Und sie hilft, schwierige und sogar existenziell bedrohliche Situationen zu überstehen. Ein berühmtes Beispiel illus triert das: Erich Kästners Gedichtband „Lyrische Hausapotheke“ wurde 1936 zusammengestellt. Der Band musste in NS-Deutschland im Geheimen zirkulieren. Im Warschauer Getto erhielt die Jüdin Teofila Langnas ein dorthin gelangtes Exemplar. Sie schrieb es ab, schmückte es mit Bildern. Diese Abschrift schenkte sie 1941 Marcel Reich-Ranicki, ihrem späteren Mann, der zu einem der einflussreichsten Literaturkritiker der Nachkriegszeit wer den sollte. Gemeinsam lasen sie die Gedichte, als ihnen der Tod im Getto drohte, und stärkten so ihren Überle bensmut. Ein weiteres Beispiel, wie Literatur – hier die Erinnerung an ein einzelnes Gedicht – zumindest mithilft, eine klägliche Lage besser auszuhalten, zeigt das Gedicht „Latrine“ von Günter Eich. Thema 2: Dichter helfen (Dichtern) Aufgabe: Günter Eich: Latrine (1948) und Friedrich Hölderlin: Andenken (1803) Verfassen Sie eine Textinterpretation. Lesen Sie die Gedichte „Latrine“ von Günter Eich und „Andenken“ von Friedrich Hölderlin (Seite 357). Verfassen Sie nun die Textinterpretation und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge: ■■ Beschreiben Sie die Situation, die Beobachtungen, Gedanken, Assoziationen und Erinnerungen des lyrischen Ich in beiden Gedichten. ■■ Untersuchen Sie die Form und Sprache der Gedichte und setzen Sie diese in Beziehung zum Inhalt. ■■ Bewerten Sie die konträren Urteile zur Zeit der Veröffentlichung von „Latrine“ – siehe Infobox. Schreiben Sie zwischen 540 und 660 Wörter. Günter Eichs Gedicht „Latrine“ wurde 1946 erstmals veröffentlicht. Vielfach wird das Gedicht in die Zeit von Eichs amerikanischer Kriegsgefangenschaft datiert. Eich war als ehemaliger deutscher Soldat von April bis Sommer 1945 interniert. Eine andere Vermutung geht dahin, dass das Gedicht bereits 1940 entstanden sei, als Eich seine militärische Ausbildung in Frankreich machte. Vor seiner Einberufung hatte Eich als „literarischen Proviant“ zahlreiche Gedichte auswendig gelernt. Das Gedicht löste wegen seines Inhalts und besonders wegen des Reims von „Hölderlin“ auf „Urin“ Schock und Skandal aus. Andererseits wurde es als Bruch mit überholten Inhalten und Tabus und Signal für einen Neubeginn der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg angesehen und es wurde ihm „beispiellose Modernität“ zugeschrieben. Friedrich Hölderlins „Andenken“ wurde 1803 nach der Rückkehr des Dichters von Frankreich nach Deutschland verfasst. Nach seiner Entlassung aus dem Hause Gontard 1798 – siehe Seite 149 – unterhielt der Dichter mit Susette Gontard bis Mai 1800 heimlich einen Briefwechsel. Im Winter 1801 reiste er zu Fuß nach Bordeaux, wo er in einem Haus nahe der Garonne als Lehrer der Kinder eines Weinhändlers tätig war und dort bis Mai 1802 blieb. Ende Juni 1802 erfuhr er, wieder in Deutschland, die Nachricht vom Tod Susette Gontards. Die Gedichte Hölderlins wurden von den Nationalsozia- listen als „geistige Stärkung“ der Soldaten ge- und missbraucht. So sah die 1943 unter der Schirmherrschaft von NS-Propagandaminister Goebbels gegründete Hölderlin-Gesellschaft es als ihre Aufgabe, „jedem deutschen Studenten ein Hölderlin-Brevier mit ins Feld zu geben“. Diese Ausgabe erschien in einer Auflage von 100.000 Stück und enthielt auch das Gedicht „Andenken“. Info Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv
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