Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
382 Literatur zwischen 1945 und 1968 Grenzenlos Mangelnder Respekt vor der Literatur? Literaturunterricht vor 200 Jahren Wären Sie vor 200 Jahren Schüler/Schülerin gewesen und hätten sich mit der Literatur beschäftigt, so hätte diese Beschäftigung wesentlich anders ausgesehen. Ein kritischer Umgang mit der Literatur, die Aufforde rung, zu Texten Stellung zu nehmen und sie eventuell auch negativ zu beurteilen, wäre ebenso undenkbar gewesen wie eine kreative Beschäftigung damit, wie etwa Texte zu verändern, ihnen einen anderen Schluss zu geben, aus einer anderen Perspektive zu erzählen. Der große Respekt vor der Literatur, der Jahrtausende herrschte, hängt mit dem Begriff der Literatur zusam men. Das Wort Literatur ist abgeleitet vom lateinischen Wort „littera“, das Buchstabe bedeutet. Der Plural „lit terae“ erhielt dabei die spezielle Bedeutung „Doku ment“, „Schriftstück“, „Brief“. Bis etwa 1800 bezeichne te „Literatur“ das in Büchern aufgezeichnete Wissen. Und mit Wissenschaftlichem kreativ-spielerisch umzu gehen, fiele auch heute noch kaum jemandem ein, mit Wissenschaftlichem muss man sich vor allem argu mentativ und kognitiv auseinandersetzen. Texte zum Auswendiglernen Um die Dichtung von der wissenschaftlichen Litera tur abzugrenzen, wurde sie häufig mit dem Begriff „schöne Literatur“ bezeichnet. Er wurde aus dem Französischen übernommen, und zwar aus der Wort kombination „belles lettres“, was ursprünglich „schö ne Wissenschaften“ bedeutet. Als solche wurden die Geisteswissenschaften in Abgrenzung zu den Natur wissenschaften bezeichnet. Aus „belles lettres“ wur de im 19. Jahrhundert im Deutschen der Begriff „schöne Literatur“ gebildet, um damit Romane, Ge dichte, Dramen unter einer gemeinsamen Bezeich nung zusammenzufassen. Diesen Begriff finden Sie auch heute noch, wenn Sie zum Beispiel die Hitlisten der verkauften Bücher lesen. Dort wird meist zwi schen „Sachbuch“ und „Belletristik“ unterschieden. Dieser Begriff wurde im Buchhandel geprägt, und zwar als Kombination aus „belles lettres“. Er ist heute zur Bezeichnung für den internationalen Markt von Büchern geworden, die ein breites Publikum mit der Absicht „niveauvoller“ Unterhaltung ansprechen. Aber auch diese „schöne Literatur“ wurde früher an ders eingesetzt als heute. Ein Homer, Vergil, ein Schiller-Gedicht, ein Faust-Monolog durfte nicht zum „freien Gebrauch“ verwendet werden, sondern wurde meist als Demonstrationsobjekt für vorbildlichen Sprachgebrauch, rhetorische Mittel oder zum Ge dächtnistraining (Auswendiglernen) genutzt. Plädoyers für kreatives und kritisches Lesen Zu den ersten, die dazu aufforderten, ein Werk so zu lesen, dass es interpretiert, analysiert, weitergedacht und mit eigenen Gedanken der Leserinnen und Leser ergänzt wird und auf diese Weise überhaupt erst „voll- endet“ wird, gehört Goethe. Er meinte, dass sich „der wahre Leser produktiv verhalten muss“ , und unter schied drei Arten von Lesern: „Es gibt dreierlei Arten Leser; eine, die ohne Urteile genießt, eine dritte, die ohne zu genießen urteilt, die mittlere, die genießend ur- teilt und urteilend genießt; diese reproduziert eigentlich ein Kunstwerk aufs neue. Die Mitglieder dieser Klasse […] sind nicht zahlreich.“ Die Romantiker forderten die Leser und Leserinnen ausdrücklich auf, zu Texten Stel lung zu nehmen und sie zu verändern und fortzuset zen. So schreibt Novalis: „Nur dann zeig ich, dass ich einen Schriftsteller verstanden habe, wenn ich […] ihn, ohne seine Individualität zu schmälern, übersetzen und mannigfach verändern kann.“ So wird, ähnlich wie bei Goethe, laut Novalis der Leser zum „erweiterten Autor“ . Seither gibt es viele Autorinnen und Autoren, die dazu aufrufen, ihre literarischen Werke als Basis für die För derung von Kritikfähigkeit, Kreativität, Imagination zu verwenden und so eine Opposition zu dem oft auf schnelles Konsumieren bedachten Zeitgeist zu for men, der sich auch mit Texten kaum mehr intensiv, weil „zeitraubend“ befasst. Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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