Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

38 Hochmittelalter (1170–1250) Fassen Sie zusammen, was die Eingangsstrophe des Nibelungenlieds dem Publikum verspricht! Der Beginn „von weinen und von klagen“ Zwei Frauen schreiten in der Burgunderhauptstadt Worms am Rhein zur Kirche: Brünhild, Königin von Is­ land und Gemahlin des Burgunderherrschers Gunther, und Kriemhild, Schwester Gunthers und Gemahlin von Siegfried, dem Herrscher zu Xanten am Niederrhein. Das Germanentum und das Mittelalter achten überaus auf Formen. Die Höhere darf zuerst das Gotteshaus be­ treten. Doch wer ist die Höhere? Brünhild glaubt sich im Recht, hat sich doch Siegfried ihr einst als Untergebe­ ner Gunthers vorgestellt, und zwar als dessen Lehens­ mann. Die Frau eines Lehensmannes darf die Kirche nicht vor der Frau des Herrschers betreten. Doch Kriem­ hild will zuerst in den Dom. Es kommt zum Streit: Zwei Frauen ringen um die erste Position: „Dô huop sich un- der den vrouwen des grôzen nîdes genuoc – Da brach zwischen den beiden Damen unversöhnlicher Hass aus.“ Untilgbar wird dieser Hass durch eine Behauptung, die Kriemhild der Brünhild entgegenschleudert: […] den dînen schœnen lîp den minnet êrste Sîfrit, der mîn vil lieber man. Jane was ez niht mein bruoder, der dir den magetuom an gewan. Deinen schönen Körper hat zuerst Siegfried, mein lieber Mann, geliebt. Es war nämlich nicht mein Bruder, der dir die Jungfräulichkeit genommen hat. Der Rückblick: zehn Jahre früher Kriemhilds Behauptung ist stichhaltig: Brünhild wollte den auf Island um sie werbenden Gunther einst nur dann zum Mann nehmen, wenn er sie im sportlichen Dreikampf überträfe. Gunther siegt tatsächlich. Sieg­ fried hat, durch seine den Nibelungen abgejagte Tarn­ kappe unsichtbar, Gunther die Hand bei Lanzen- und Steinwurf geführt und ihn beim Weitsprung auf dem Rücken getragen. Brünhild folgt den Burgundern nach Worms, widerstrebend und ahnend, dass der Kampf nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. In Worms wird die Doppelhochzeit festlich begangen: Kriemhild heira­ tet Siegfried, Brünhild heiratet Gunther. Doch in der Hochzeitsnacht wehrt Brünhild Gunther ab, fesselt ihn und hängt ihn an einen Nagel. Gunther bittet Siegfried, ihm noch einmal beizustehen. Siegfried erscheint in der folgenden Nacht unsichtbar im Schlafgemach, überwin­ det Brünhild im Brautbett, „daz ir diu lit erkrachten unt ouch al der lip – dass ihre Glieder und ihr ganzer Körper krachten“. Dann überlässt er sie Gunther, von dem sie sich besiegt glaubt. Doch vorher entwendet Siegfried Brünhild Ring und Gürtel, die er Kriemhild schenkt, nicht ohne ihr über die Herkunft des Schmucks zu berichten. Zehn Jahre später kommt es zum erwähnten Streit um die Reihenfolge beim Kirchgang. Zum Beweis ihrer Be­ hauptung zeigt Kriemhild auch Ring und Gürtel vor: „Ich erziugez mit dem golde, daz ich an der hende hân. Daz brahte mir min vriedel, do er êrste bî iu lac. – Ich beweise es mit dem Gold, das ich an der Hand trage. Mein lieber Mann hat es mir mitgebracht, nachdem er als Erster bei Euch gelegen hatte.“ Die unaufhaltsame Sturzfahrt in die Katastrophe und die doppelte Rache Die Eskalation des Konflikts vor der Kirche führt rasch in den Untergang. Personen, die mäßigend eingreifen möchten, haben keine Chance. Sie sind zu wenige, ha­ ben keine Machtposition, so etwa der zu den mensch­ lichsten Figuren zählende Rüdiger von Bechelaren, dem heutigen Pöchlarn im Donautal. Der Rachemechanis­ mus ist in Gang gesetzt. Hagen, Gefolgsmann Gunthers und damit Brünhilds, tötet „in eislîcher rache“ Siegfried aus dem Hinterhalt, da dieser die Ehre Brünhilds ge­ schändet hat. Siegfried ist zwar grundsätzlich unver­ wundbar, da er im Blut des von ihm getöteten Drachen gebadet hat. Nur an einer Stelle kann er verwundet werden, an der Schulter. Dort war ihm beim Bad im Dra­ chenblut ein Lindenblatt hinaufgefallen. Diese Stelle hatte Kriemhild Hagen verraten, in dem naiven Vertrau­ en, er wolle Siegfried schützen. Nach Siegfrieds Ermor­ dung sinnt Kriemhild auf Rache. Der Hunnenkönig Etzel Aufgabe 2 4 2 4 Die erste Strophe Uns ist in alten mæren / wunders vil geseit von helden lobebæren / von grôzer arebeit, von fröuden, hôchgezîten, / von weinen und von klagen, von küener recken strîten / muget ir nu wunder hœren sagen. 2 4 „Vokabular“: geseit: gesagt; hochgezît: Freudenzeit; arebeit: Mühe, Not, Kampf Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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