Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
378 Literatur zwischen 1945 und 1968 13 „Caligula lässt drohend sein Fahrrad klingeln.“ Wolfgang Bauer: „Caligula“ (1964) Eigentlich unspielbar Bauers Mikrodramen überfordern jedes Theater. Man che wie „Lukrezia“ dauern gerade 30 Sekunden: Lukre zia sitzt in einem Tollkirschengebüsch, hebt ein Einsie deglas zum Mund und flüstert „Kompott“, dann fällt der Vorhang. In anderen Dramen muss es laut Bauers Bühnenanweisung Walfische regnen, Überschwem mungen geben, muss das Theater in Feuer aufgehen, der Intendant mit dem Flugzeug davonfliegen, die Antarktis, ein Düsenjet und ein Stadion mit 150.000 Zu schauern, alles in Originalgröße, auf der Bühne sein. Bauers Anliegen ist es, Dichtung und Kunst als Gegen stück zu einer nur auf das Praktische und Funktionie ren ausgerichteten Realität zu zeigen. Caligula 1. Akt: Die Bühne ist ein Obstgarten. Und zwar sieht man ausschließlich Apfelbäume, die alle dieselbe (rote) Sorte tragen. Ein schöner Septembernachmittag. Ernte. Auf den Bäumen stehen Bäuerinnen. Holen die fertigen Früchte ein. Auf den Ästen wippend, summen sie ein fröhliches Arbeitslied, zwinkern sich aufmun- ternd durch das helle Blattwerk zu. Ihre punktierten Kopftüchlein sind vielleicht das Symbol für die Stimmung der Mädchen. Mitten in diesem Idyll aber wird in der Bühnentiefe, dort wo der Gartenzaun eine Grenze ist, eine Person auf einem Fahrrad sichtbar. Schwarzer Herbstmantel, die Haare in die Stirn frisiert (Römerfrisur). Es ist Caligula. Er hält am Zaun und wirft einen bösen Blick in den Obstgarten. Unheim- lich, schemenhaft wirkt er in der Bühnentiefe. Eine Bäuerin (bemerkt ihn) : Resi! Schau. Da ist er schon wieder! Die Bäuerinnen hören auf zu singen. In diese plötz liche Stille hinein lässt Caligula drohend sein Fahrrad klingeln. Vorhang 2. Akt: Eine Bauernstube. Alles ist aus schwerem Holz gemacht, die Stühle, die Bank dunkel, der mächtige Tisch etwas heller. Um ihn sitzen die Bäuerinnen aus dem ersten Akt und verzehren ihr Abendbrot: Eine pastose 1 Gemüsesuppe. Das geschieht sehr einfach, beinahe andächtig. Caligula sitzt auch dabei, aber er hat keinen Teller vor sich. Nervös, eckig und auffor- dernd sieht er die schmatzenden Bäuerinnen an. Sie nehmen kaum Notiz von ihm. Resi (ihren Löffel abschleckend) : Ah … Vorhang 3. Akt: Der Lager- und Abstellraum auf dem Gut. Sensen, Hacken und Schaufeln sind hier abgestellt. In einer dunklen Ecke steht ein Mähdrescher. Im Vordergrund, auf einem riesigen Haufen Apfelbutzen, sitzt Caligula. Neben ihm Resi. Neben ihr: ihre Kleidung. Beide essen Äpfel. Vollgeschlagene Bäuche. Über ihnen hängt (nur locker auf zwei glatte Trambäume gelegt) eine schwere Kohlenschaufel. C. in bester Laune, er schießt, sobald er einen Apfel gegessen hat, den Butzen in Richtung Schaufel. Wenn er trifft, schwankt die Schaufel, dann lacht er und klatscht Resi auf den Rücken. Resi (ängstlich zur Kohlenschaufel aufblickend) : Na! Net! Bittschön! Caligula, von Resis Angst aufgestachelt, nimmt jetzt gleich zwei Hände voll Apfelgriebs 2 und schießt Porträt Wolfgang Bauer, Foto, 1969 2 4 6 8 10 12 14 16 16 18 20 22 1 dicke 2 Griebs: Kerngehäuse 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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