Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

375 Literatur zwischen 1945 und 1968 12 „Die Güllener: Menschen wie wir alle.“ Friedrich Dürrenmatt: „Der Besuch der alten Dame“ (1955) Eine alte Dame rächt sich In ihrer Jugend war Kläri Wäscher von Alfred Ill ver­ führt und mit ihrem Kind im Stich gelassen worden. Darauf war sie – vom Dorf als Hure abgestempelt – ins Ausland gegangen und durch mehrere Ehen mit rei­ chen Männern zu einem sagenhaften Vermögen ge­ kommen. Als Claire Zachanassian kehrt sie nach 45 Jahren in ihren heruntergekommenen Heimatort Güllen zurück, wo kaum ein Zug mehr hält. Der Besuch der alten Dame wird zu einer Sensation, als sie dem Städtchen eine Milliarde unter der Bedingung anbie­ tet, Ill aus Gründen der „Gerechtigkeit“ und der „tota- len Rache“ zu töten. Zunächst lehnt man das Angebot „im Namen der Menschlichkeit“ entrüstet ab, dann aber deutelt man in Güllen so lange an dem Begriff Moral herum, bis man im „Interesse Güllens“ von der Notwendigkeit und moralischen Richtigkeit des Mor­ des überzeugt ist. Alfred Ill wird ermordet, Claire reist nach Überreichung des Schecks wieder ab, Güllen ist reich. Lachen, auch wenn es im Hals stecken bleibt Der Autor nennt das Stück eine „tragische Komödie“. Das Lachen soll Distanz erzeugen, so dass das Publi­ kum die dargestellte Wirklichkeit kritisch erfassen kann. Dürrenmatt über Claire und das Anliegen des Stücks im Nachwort zum „Besuch der alten Dame“: Claire ist die reichste Frau der Welt, durch ihr Vermögen in der Lage, wie eine Heldin der griechi- schen Tragödie zu handeln, absolut, grausam, wie Medea etwa. Sie kann es sich leisten. Die Dame hat Humor […], da sie Distanz zu den Menschen besitzt als zu einer käuflichen Ware […]. Die Güllener: Menschen wie wir alle. […] Lesen Sie zwei Szenen: die Szene, als Ill und Claire einander nach 45 Jahren wieder treffen, und die Szene, in der Ill ermordet wird. Erläu­ tern Sie, welche Elemente als komisch-grotesk und welche als tragisch zu bewerten sind. Wiederentdeckt Parallel zur großen Beachtung, die Frisch und Dürren- matt finden, entdeckt man in den 60er-Jahren mit Robert Walser (1878–1956) einen weiteren großen Schweizer Autor neu. Im Mittelpunkt seiner schon vor dem Ersten Weltkrieg erschienenen Romane „Geschwis- ter Tanner“ (1907), „Der Gehülfe“ (1908) und „Jakob von Gunten“ (1909) stehen Helden, denen Besitz, Erfolg, Anerkennung unwichtig sind. Heiter und gelassen verweigern sie die Anpassung. Szene 1 Ill: Klara. Claire Zachanassian: Alfred. Ill: Schön, dass du gekommen bist. Claire: Das habe ich mir immer vorgenommen. Mein Leben lang, seit ich Güllen verlassen habe. Ill unsicher : Das ist lieb von dir. Claire: Auch du hast an mich gedacht? Ill: Natürlich. Immer. Das weißt du doch, Klara. Claire: Es war wunderbar, all die Tage, da wir zusammen waren. Ill stolz : Eben. Zum Lehrer:  Sehen Sie, Herr Lehrer, die habe ich im Sack. Claire: Nenne mich, wie du mich immer genannt hast. Ill: Mein Wildkätzchen. Claire schnurrt wie eine alte Katze : Wie noch? Ill: Mein Zauberhexchen. Claire: Ich nannte dich mein schwarzer Panther. Ill: Der bin ich noch. Claire: Unsinn. Du bist fett geworden. Und grau und versoffen. Ill: Doch du bist die gleiche geblieben. Zauber­ hexchen. Claire: Ach was. Auch ich bin alt geworden und fett. Dazu ist mein linkes Bein dahin. Ein Autounfall. Ich fahre nur noch Schnellzüge. Doch die Prothese ist vortrefflich, findest du nicht? Sie hebt 2 4 6 Aufgabe Info 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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