Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

373 Literatur zwischen 1945 und 1968 11 „Wir leben aus zweiter Hand.“ Max Frisch: „Stiller“ (1954) und „Homo faber“ (1957) „Stiller“ beginnt im Gefängnis Er hasst Wiederholung und Routine. Er möchte sein Leben immer wieder neu gestalten. Deshalb flüchtet Stiller aus Ehe und Beruf in die USA, um sich dort eine neue Identität aufzubauen. Nicht mehr Stiller nennt er sich dort, sondern Jim Larkin White. Auch dort schei­ tert er. Ein Selbstmordversuch ist die Wende. Stiller/ White beschließt in die Schweiz zurückzukehren. Bei seiner Ankunft wird er als der verschollene Stiller er­ kannt und in Haft genommen. Im Untersuchungsge­ fängnis schreibt er sein Tagebuch. Der Beginn des Werks ist einer der berühmtesten Romananfänge des 20. Jahrhunderts. Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere. Denn ohne Whisky, ich hab’s ja erfahren, bin ich nicht ich selbst, sondern neige dazu, allen möglichen guten Einflüssen zu erliegen und eine Rolle zu spielen, die ihnen so passen möchte, aber nichts mit mir zu tun hat, und da es jetzt in meiner unsinnigen Lage (sie halten mich für einen verschollenen Bürger ihres Städtchens!) einzig und allein darum geht, mich nicht beschwat- zen zu lassen und auf der Hut zu sein gegenüber allen ihren freundlichen Versuchen, mich in eine fremde Haut zu stecken, unbestechlich zu sein bis zur Grobheit, ich sage: da es jetzt einzig und allein darum geht, niemand anders zu sein als der Mensch, der ich in Wahrheit leider bin, so werde ich nicht aufhören, nach Whisky zu schreien, sooft sich jemand meiner Zelle nähert. Übrigens habe ich bereits vor Tagen melden lassen, es brauche nicht die allererste Marke zu sein, immerhin eine trinkba- re, ansonst ich eben nüchtern bleibe, und dann können sie mich verhören, wie sie wollen, es wird nichts dabei herauskommen, zumindest nichts Wahres. Vergeblich! Heute bringen sie mir dieses Heft voll leerer Blätter: Ich soll mein Leben nieder- schreiben! wohl um zu beweisen, dass ich eines habe, ein anderes als das Leben ihres verschollenen Herrn Stiller. Keine Chance, aber dafür Einsicht in die Chancen­ losigkeit Bald muss Stiller die Erfahrung machen, dass sein Wunsch nach persönlicher Identität unmöglich ist. Freunde, Bekannte, Ämter, Wissenschaft, die gesamte Gesellschaft haben über den Einzelnen mehr Macht als er selbst und drängen ihn in Rollen. Die moderne Gesellschaft erlaubt dem Menschen nicht mehr, ein persönliches Leben zu führen. Er bemerkt, dass Wis­ sen, Erfahrung, Information nur scheinbar von uns selbst stammen. In Wirklichkeit lebt der Mensch aus zweiter Hand. Nicht zuletzt die Medien nehmen einem das individuelle Leben weg und ab. Wir leben in einem Zeitalter der Reproduktion. Das allermeiste in unserem persönlichen Weltbild haben wir nie mit eigenen Augen erfahren, genauer: wohl mit eigenen Augen, doch nicht an Ort und Stelle; wir sind Fernseher, Fernhörer, Fernwisser. Man braucht dieses Städtchen nie verlassen zu haben, um die Hitlerstimme noch heute im Ohr zu haben, um den Schah von Persien aus drei Meter Entfernung zu ken- nen und zu wissen, wie der Monsun über den Himalaja heult oder wie es tausend Meter unter dem Meeresspiegel aussieht. […] Und mit dem menschli- chen Innenleben ist es genau so. […] Was für ein Zeitalter! Es heißt überhaupt nichts mehr, Schwert­ fische gesehen zu haben, eine Mulattin geliebt zu haben, all dies kann auch in einer Kulturfilm-Matinée geschehen sein. Niemand kann sich der Gesellschaft entziehen Als schließlich der Zahnarzt anhand des Gebisses Stil­ lers Identität feststellt, resigniert dieser in seinem Kampf um die eigene Identität. Er zieht sich aufs Land zurück und widmet sich dort der Töpferei. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 2 4 6 8 10 12 14 16 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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