Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

370 Literatur zwischen 1945 und 1968 10 „Die Erde will keinen Rauchpilz tragen.“ Ingeborg Bachmann: „Freies Geleit“ (1956) Hans Magnus Enzensberger: „das ende der eulen“ (1960) Erich Fried: „Anpassung“ (1966) Ingeborg Bachmanns „schöne Gedichte“ werden missverstanden 1953 und 1956 erscheinen Ingeborg Bachmanns Lyrik­ bände „Die gestundete Zeit“ und „Anrufung des großen Bären“. Die Kritik rühmt ihre sprachliche Schönheit, be­ tont die Unterschiede zur kargen Lyrik der „Trümmer­ literatur“, rückt die Autorin in die Nähe der antiken Sängerin Sappho, vergleicht sie mit Rilke. Dass die Ge­ dichte scharfe Kritik ausdrücken, wurde oft übersehen. Deshalb ironisierte Bachmann in der an der Universität Frankfurt gehaltenen Vorlesungsreihe „Probleme zeit­ genössischer Dichtung“ Leser, die ihre Gedichte ver­ harmlosen und nur die formale Harmonie genießen möchten: „Hauptsache, dass die schönen Worte da sind, das Poetische, das ist gut, das gefällt uns.“ Sie attackier­ te diese Art von kulinarischem Lesen als „Vorbeugungs- mittel gegen die Kunst, um sie unschädlich zu machen“ . In radikaler Konsequenz auf das Missverstehen ihrer Gedichte veröffentlichte die Autorin nach 1956 keinen weiteren Lyrikband. Freies Geleit (Aria II) Mit schlaftrunkenen Vögeln und winddurchschossenen Bäumen steht der Tag auf, und das Meer leert einen schäumenden Becher auf ihn. Die Flüsse wallen ans große Wasser, und das Land legt Liebesversprechen der reinen Luft in den Mund mit frischen Blumen. Die Erde will keinen Rauchpilz tragen, kein Geschöpf ausspeien vorm Himmel, mit Regen und Zornesblitzen abschaffen die unerhörten Stimmen des Verderbens. Mit uns will sie die bunten Brüder und grauen Schwestern erwachen sehn, den König Fisch, die Hoheit Nachtigall und den Feuerfürsten Salamander. Für uns pflanzt sie Korallen ins Meer. Wäldern befiehlt sie, Ruhe zu halten, dem Marmor, die schöne Ader zu schwellen, noch einmal dem Tau, über die Asche zu gehn. Die Erde will ein freies Geleit ins All jeden Tag aus der Nacht haben, dass noch tausend und ein Morgen wird von der alten Schönheit jungen Gnaden. ■■ Stellen Sie fest, wo die Beschreibungen der Erde in einen Appell übergehen und in welchen Strophen formuliert wird, was die Erde will und was sie nicht will. ■■ Untersuchen Sie, welche Verse sich dem Element „Wasser“ widmen, welche dem Element „Luft“, wo das Element „Feuer“ angesprochen wird. ■■ Erschließen Sie die Beziehung des lyrischen Ich zu den Tieren. ■■ Definieren Sie den Begriff „freies Geleit“. ■■ Wenn Sie das Gedicht laut lesen, merken Sie seinen Klangreichtum. Besonders „klang­ reich“ ist die zweite Strophe. ■■ Bestimmen Sie, welches Stilmittel in dieser Strophe dominiert. ■■ Erschließen Sie, auf welches Werk der Weltliteratur der vorletzte Vers anspielt, ein Werk, in dem die Erzählerin in tausend Nächten Todesängste aussteht und darauf hoffen muss, „dass noch tausend und ein Morgen wird”. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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