Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

369 Literatur zwischen 1945 und 1968 Als er [= Habergeier] nun an jenem Nachmittag im Gerippe seines Baumes hockte (ein hässlicher Vogel, ein „Haber-Geier“), bewegungslos, als ob er schliefe, und dennoch mit wachsamen Blicken das Zwielicht durchforschend, den Nebel, der überall aufzusteigen begann, klatschte ihm unvermittelt ein Lachen ans Ohr, das helle Lachen einer Weiberkehle. Er führte das Glas an die Augen und spähte hindurch, suchte dies Gelächter auf der Lichtung, und bald darauf entdeckte er die beiden, die jenseits aus dem Wald getreten waren, „den Viehtreiber und das Wirts- mensch“, wie er sie nannte, wenn er manchmal mit sich selber sprach. Sie folgten dem schmalen Jägersteig, der das untere Ende des Schlages kreuzte; zwar mussten sie hintereinander marschieren, eben weil der Weg so schmal war, aber sie hielten sich doch an den Händen (wie es Liebenden geziemt); hohes, dürres Gras verhüllte ihren Schritt, als wateten sie durch ein fahles Gewässer, das bis an die Hüften reicht. Habergeier entschied, dieses Liebespaar habe hier gar nichts zu suchen. Und jetzt (verdammt und zugenäht!) verließen sie sogar den Steig und strebten einem Stubben 1 zu, welcher als halbwegs trockener Sitzplatz aus Unkraut und Unterholz ragte. Und in der Tat! Die beiden setzten sich hin! Der Viehtreiber auf den Stubben, und das Wirtsmensch, nach züchtigem Handgemenge der männlichen Brutalität erliegend, dem Viehtreiber quer auf den Schoß. Dann wuchsen sie zusammen, verschmolzen in der Dämmerung, wurden zu einem phantasti- schen Klumpen, einem einzigen ungestalten Leib mit vier Armen und vier Beinen, die ineinander ver- schlungen waren wie unten im Erdreich die Wurzeln der mächtigen Bäume. Habergeier ließ seinen Feldstecher sinken. Er wusste, der Klumpen da würde ihm alles verderben. Die feuchte, reglos lastende Luft dieses Abends saugte die Gerüche wie einen Schwamm und hielt sie für die Witterung des Wildes noch lange Zeit in Bodennähe fest. Er überlegte, was zu tun sei. Ohne Verdruss die beiden entfernen, das ging nicht. Ihnen die Poren zuhalten konnte man auch nicht. Ja, eigentlich konnte man gar nichts anderes machen, als warten, bis sie sich hinreichend abgeschmiert hatten. „Stinkt euch nur aus, ihr Luder!“, knurrte er dro- hend. Er nahm seinen Stutzen, legte an, zielte – jegli- cher Sitte zum Trotz – spielend auf das Liebespaar, dessen Brunftgeruch die Tiere hinwegstänkern würde. Hinter Kimme und Korn erschienen die Köpfe der beiden, dieser edelste Teil einer nunmehr verbotenen Beute, und in Habergeier (er sah wie der liebe Gott aus!) wurden auf einmal Erinnerungen lebendig; sein dürrer Finger krallte sich jäh um den Abzug wie die Kralle eines großen Vogels. Da senkte er eiligst den Lauf. Die Menschen hatten jetzt Schonzeit. Habergeier bleibt als einziger der Mörder ungescho­ ren. Er kann sich, da er gerade in den Landtag gewählt wurde, dank seiner Immunität der Strafe für seine Ver­ brechen entziehen. Seiner weiteren politischen Kar­ riere steht nichts imWeg. Auch dieser Hinweis Leberts auf die Leichtigkeit, mit der manche NS-Verbrecher wieder in den politischen Alltag zurückkehren durften, erregte wenig Freude. Erst auf Empfehlung von Elfrie­ de Jelinek wurde Lebert in den 90er-Jahren wiederent­ deckt. ■■ Fassen Sie das Geschehen zusammen. ■■ Interpretieren Sie den letzten Absatz (ab Zeile 48) in Hinblick auf Habergeiers Charak­ ter. ■■ Deuten Sie die Veränderung Habergeiers, der zu Beginn des Abschnitts als „hässlicher Vogel“ und am Ende als wie „der liebe Gott“ beschrieben wird. ■■ Beschreiben Sie die Parallelen zwischen Wetter, Landschaft und Habergeiers Charakter. 2 4 6 8 10 12 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 1 Baumstrunk 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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