Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

356 Literatur zwischen 1945 und 1968 Du musst sofort zu Bett, Junge. Der Vater versuchte aufzustehen und verzog das Gesicht. Es tropfte von seiner Hand. Alles Kirschen, flüsterte der Kranke. Alles meine Kirschen. Waren sie kalt? fragte er laut. Ja? Sie waren doch sicher schon kalt, wie? Sie hat sie doch extra vors Fenster gestellt, damit sie ganz kalt sind. Damit sie ganz kalt sind. Der Vater sah ihn hilflos von unten an. Er lächelte etwas. Ich komme nicht wieder hoch, lächelte er und verzog das Gesicht. Das ist doch zu dumm, ich komme buchstäblich nicht wieder hoch. Der Kranke hielt sich an der Tür. Die bewegte sich leise hin und her von seinem Schwanken. Waren sie schön kalt? flüsterte er, ja? Ich bin nämlich hingefallen, sagte der Vater. Aber es ist wohl nur der Schreck. Ich bin ganz lahm, lächelte er. Das kommt von dem Schreck. Es geht gleich wieder, dann bring ich dich zu Bett. Du musst ganz schnell zu Bett. Der Kranke sah auf die Hand. Ach, das ist nicht so schlimm. Das ist nur ein kleiner Schnitt. Das hört gleich auf. Das kommt von der Tasse, winkte der Vater ab. Er sah hoch und verzog das Gesicht. Hoffentlich schimpft sie nicht. Sie mochte gerade diese Tasse so gern. Jetzt hab ich sie kaputt gemacht. Ausgerechnet diese Tasse, die sie so gern mochte. Ich wollte sie ausspülen, da bin ich ausgerutscht. Ich wollte sie nur ein bisschen kalt ausspülen und deine Kirschen da hineintun. Aus dem Glas trinkt es sich so schlecht im Bett. Das weiß ich noch. Daraus trinkt es sich ganz schlecht im Bett. Der Kranke sah auf die Hand. Die Kirschen, flüsterte er, meine Kirschen? Der Vater versuchte noch einmal, hochzukommen. Die bring ich dir gleich, sagte er. Gleich, Junge. Geh schnell zu Bett mit deinem Fieber. Ich bring sie dir gleich. Sie stehen noch vorm Fenster, damit sie schön kalt sind. Ich bring sie dir sofort. Der Kranke schob sich an der Wand zurück zu seinem Bett. Als der Vater mit den Kirschen kam, hatte er den Kopf tief unter die Decke gesteckt. ■■ Bestimmen Sie, welches Stilmittel die Kurzgeschichte kennzeichnet, und das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit. ■■ Erläutern Sie, welchen Konflikt die Leser­ schaft nach der Lektüre der ersten etwa 20 Zeilen erwartet und welche Position der Leser/die Leserin anfangs vermutlich gegenüber dem Vater einnimmt. ■■ Analysieren Sie, aus wessen Perspektive man zunächst den Vater wahrnimmt und welchem Wahrnehmungsirrtum der Junge unterliegt. ■■ Erklären Sie, wie Sie den Vater am Schluss des Textes beurteilen und an welcher Stelle sich für Sie die Einstellung zum Vater geändert hat. ■■ Die Kurzgeschichte hat den typischen Beginn – fehlende Einleitung, Einführung der Personen mit einem Personalpronomen – und den typischen offenen Schluss. Schreiben Sie einen neuen Schluss: „Und dann zieht der Junge die Decke vom Kopf weg …“ 2 „Über stinkendem Graben, Papier voll Blut und Urin“ Günter Eich: „Latrine“ (1948) Keine Sprachkünstler Günter Eich hat seinen ersten großen Erfolg mit dem Gedichtband „Abgelegene Gehöfte“ (1948). Im Gegen­ satz zu den Expressionisten oder Symbolisten wollen Dichter wie Eich keine sendungsbewussten Prophe­ ten, Magier oder Sprachkünstler sein. Sachliches Auf­ zählen einfacher Gegenstände, alltäglicher Situatio­ nen und emotionslose Selbstbeobachtung bestimmen Inhalt und Form der Lyrik. Ein Beispiel ist das Gedicht „Latrine“. Auch die Natur ist, wie das Gedicht „Vorsicht“ zeigt, nicht mehr Ziel für Sehnsüchte oder romanti­ sche Gefühle. 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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