Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
355 Literatur zwischen 1945 und 1968 Drama „Die Physiker“. Der Physiker Möbius, der die „Weltformel“ entdeckt hat, mit der die Welt zerstört werden kann, flüchtet sich, obwohl er bei vollem Ver stand ist, ins Irrenhaus. Nur so glaubt er seine Ent deckung vor dem Zugriff der Öffentlichkeit schützen zu können. Doch der Idealist Möbius rechnet nicht mit der primitiven Kriminalität der anderen. Seine Irren ärztin bringt die „Weltformel“ an sich. Die Zerstörung der Welt ist damit möglich. Das unter dem Eindruck der Entwicklung der Wasserstoffbombe geschriebene Stück warnt vor dem unkalkulierbaren Risiko der Wis senschaft, es endet pessimistisch: „Was einmal ge- dacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen wer- den“ , stellt Möbius resignierend fest. Theaterprovokation aus Österreich: die grotesken Mikrodramen von Wolfgang Bauer Die Bekanntheit von Wolfgang Bauer (1941–2005) be ruht heute in erster Linie auf Dramen wie „Party for six“, „Magic Afternoon“ und „Change“, welche Sinnver lust, Langeweile und Rollenzwänge vorführen. Bauers erster provokanter Bucherfolg waren aber die „Mikro dramen“. Auch für Bauer ist die Zerstörung von Pathos ein wichtiges Element des Theaters, wie das Drama „Caligula“ (13) zeigt. ■■ Erläutern Sie den Begriff des literarischen „Kahlschlags“ und der „Trümmerliteratur“. ■■ Fassen Sie die Diskussion zusammen, ob man über „Auschwitz“ Gedichte schreiben „darf“, und erörtern Sie Ihre Position dazu. Der Leseraum 1 „Jetzt isst er die Kirschen auf, die für mich sind.“ Wolfgang Borchert: „Die Kirschen“ (1947) Der „reduzierte“ Autor Kaum ein Lesebuch, kaum eine Literaturgeschichte verzichtet auf eine ausführliche Präsentation von Wolfgang Borcherts Drama „Draußen vor der Tür“ und seiner Kriegs- und Nachkriegserzählungen wie „Das Brot“ oder „Nachts schlafen die Ratten doch“. Doch die Favorisierung dieser Werke birgt die Gefahr der Redu zierung des Autors auf eben diese paar Texte. Dass Borchert ein vielfältiger Erzähler ist, der seelische Ka tastrophen des Alltags fast wie beiläufig andeutet und ihnen trotzdem Eindringlichkeit gibt, geht dabei verlo ren. Beispiele dafür sind die Erzählungen „Schischy phusch“, „Die traurigen Geranien“ oder die hier vorge stellte Kurzgeschichte „Die Kirschen“: Nebenan klirrte ein Glas. Jetzt isst er die Kirschen auf, die für mich sind, dachte er. Dabei habe ich das Fieber. Sie hat die Kirschen extra vors Fenster gestellt, damit sie ganz kalt sind. Jetzt hat er das Glas hingeschmissen. Und ich hab das Fieber. Der Kranke stand auf. Er schob sich die Wand entlang. Dann sah er durch die Tür, dass sein Vater auf der Erde saß. Er hatte die ganze Hand voll Kirschsaft. Alles voll Kirschen, dachte der Kranke, alles voll Kirschen. Dabei sollte ich sie essen. Ich hab doch das Fieber. Er hat die ganze Hand voll Kirsch- saft. Die waren sicher schön kalt. Sie hat sie doch extra vors Fenster gestellt für das Fieber. Und er isst mir die ganzen Kirschen auf. Jetzt sitzt er auf der Erde und hat die ganze Hand davon voll. Und ich hab das Fieber. Und er hat den kalten Kirschsaft auf der Hand. Den schönen kalten Kirschsaft. Er war bestimmt ganz kalt. Er stand doch extra vorm Fenster. Für das Fieber. Er hielt sich am Türdrücker. Als der quietschte, sah der Vater auf. Junge, du musst doch zu Bett. Mit dem Fieber, Junge. Du musst sofort zu Bett. Alles voll Kirschen, flüsterte der Kranke. Er sah auf die Hand. Alles voll Kirschen. Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus - Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=