Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

354 Literatur zwischen 1945 und 1968 Große Romane ohne großes Publikum Autoren wie Böll, Grass, Lenz, Koeppen dominierten die Romanliteratur der 50er- und 60er-Jahre. Dabei blieb wenig Platz in der Öffentlichkeit für andere Ro­ mane, die den Krieg, die NS-Herrschaft und das Wei­ terleben des unmenschlichen Verhaltens, auf denen die NS-Herrschaft beruhte, auf ebenso qualitätsvolle, wenn auch zum Teil noch drastischere Weise schilder­ ten. Dazu gehört der Roman „Wolfshaut“ des Österrei­ chers Hans Lebert (1919–93) sowie „Vergeltung“ von Gert Ledig (1921–99) (9) . Diese Werke gelten heute noch im deutschsprachigen Raum als eher wenig be­ achteter „Geheimtipp“. Die kritische Lyrik Auch die Lyrik wendet sich der Zeitkritik zu. Die Ge­ dichte zielen auf Provokation, wollen Reaktionen, „Wi- derstände, Beschimpfungen, Gegenbeweise, mit einem Wort Folgen“ erzwingen. Gedichte wie „das ende der eulen“ von Hans Magnus Enzensberger (*1929), „Freies Geleit“ von Ingeborg Bachmann (1926–73) und „Anpas- sung“ von Erich Fried (1921–88) (10) zeigen diese kriti­ sche Orientierung. Die Konkrete Poesie der Wiener Gruppe in den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhun­ derts – Friedrich Achleitner (1930–2019), H. C. Artmann (1921–2000), Konrad Bayer (1932–64), Gerhard Rühm (*1930) – und die Gedichte von Autoren und Autorin­ nen, die der Gruppe nahestehen, wie Ernst Jandl (1925–2000), Friederike Mayröcker (*1924) und Andreas Okopenko (1930–2010), setzen sprachliche, visuelle und akustische Experimente ein und möchten damit genauso Kritik an der verbrauchten Sprache üben wie an der Reduzierung der Literatur auf Erbauung für „schöne“ Stunden. Der skeptische Schweizer Max Frisch: die Menschen auf der Suche nach ihrer Identität Die Dramen- und Romanfiguren von Max Frisch (1911– 91) suchen nach sich selbst. Besonders gilt das für die Romane „Stiller“ und „Homo faber“ (11) . In „Stiller“ ver­ sucht die Hauptperson Widerstand zu leisten gegen die Rolle, die ihm von der Gesellschaft aufgezwungen wird. Stiller träumt von einem spontanen Leben, vom Ausbruch aus Zwang und Eintönigkeit. „Homo faber“ bezeichnet man oft als „Komplementärroman“ zu „Stiller“. Die Hauptperson, der Techniker Walter Faber, träumt von einem geregelten Leben, in dem alles nach Plan verläuft und eine fixe Rolle ihm Identität gibt. We­ der für Stiller noch für Faber erfüllt sich dieser Wunsch. Eine fixierte Rolle übernimmt auch die Hauptperson Andri in Frischs Dramenerfolg „Andorra“ (1961). Er wird allerdings von den Mitmenschen in diese Rolle ge­ drängt, in die des „Juden“ und Außenseiters. Wegen seiner durch diese Rollenzuweisung verursachten An­ dersartigkeit wird er getötet. Wie dominierend die Bösartigkeit der Mitmenschen sein kann, hatte Frisch schon in „Biedermann und die Brandstifter“ (1958) ge­ zeigt. Der naive Herr Biedermann, der sich nicht vor­ stellen kann, dass jemand anders denkt als er, trägt bereitwillig zu seinem eigenen Untergang, dem Brand seines Hauses durch die von ihm aufgenommenen Brandstifter, bei. Der Untertitel des Dramas lautet „Ein Lehrstück ohne Lehre“. Er zeigt, wie skeptisch Frisch ist, was persönliche oder gesellschaftliche Verände­ rung durch Literatur anlangt. Der ironische Schweizer Friedrich Dürrenmatt: Die groteske Welt braucht groteske Literatur Dass Literatur die Welt nicht verbessern kann, ist auch die Ansicht von Friedrich Dürrenmatt (1921–90). Die Hoffnung, dass der „Mensch die Welt verändern könne und müsse, [ist] für den Einzelnen unrealisierbar“ . Die Politik ist für Dürrenmatt „unüberschaubar, anonym, bürokratisch geworden, und dies nicht etwa nur in Moskau oder Washington, sondern auch schon in Bern“ . Die Welt ist etwas „Ungeheures, […] das hinge- nommen werden muss“. Sie ist „gedankenlos, ein Irren- haus, die Leute sind rücksichtslos […] sie hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe“ . Ist die Welt grotesk, so müssen die Texte, die sie darstellen, auch grotesk sein. Nur mehr Komödien sind möglich, aber keine Tragödien, denn in der „Wurstelei unseres Jahr- hunderts […] gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür […].“ Auch die Literatur kann in dieser allgemeinen Konfu­ sion nichts mehr retten, sie kann vielleicht dann und wann warnen. Deshalb ist auch das Drama „Der Be- such der alten Dame“ (12) , in der die Bewohner des Städtchens Güllen ihren Mitbürger Ill in den Tod trei­ ben, damit sie zu Wohlstand kommen, für Dürrenmatt eine „tragische Komödie“. Im Gegensatz zur antiken Tragödie kann niemand mehr ernstlich auf Verände­ rungen hoffen. Auch der Dichter selbst weiß keine Lö­ sung. Er ist wie ein Lotse höchstens da, „um zu war- nen. Die Schiffer sollen […] den Lotsen nicht missach- ten. Er kennt zwar die Kunst des Steuerns nicht und kann die Schifffahrt nicht finanzieren, aber er kennt die Untiefen und Strömungen.“ In der grotesken mo­ dernen Welt hat auch ein besorgter Einzelner keine Chance, Unheil zu verhüten. Dies zeigt Dürrenmatts Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus - Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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