Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

353 Literatur zwischen 1945 und 1968 antwortung für sich und die anderen. Der Mensch ist laut Sartre nichts anderes als das, wozu er sich macht. In „Ist der Existenzialismus ein Humanismus?“ (1964) schreibt Sartre: Der Mensch ist voll und ganz verantwortlich […] für das, was er ist. Und wenn wir sagen, dass der Mensch für sich selber verantwortlich ist, so wollen wir nicht sagen, dass der Mensch gerade eben nur für seine Individualität verantwortlich ist, sondern dass er verantwortlich ist für alle Menschen. Das 1947 erschienene Werk Sartres „Was ist Literatur?“ beeinflusste die deutschen Autoren besonders stark. Literatur muss für Sartre mutig sein, revoltieren und über die Fragen ihrer Zeit schreiben. Ohne engagierte Literatur würde „die Gesellschaft in den Schlamm […] zurücksinken, das heißt in das gedächtnislose Leben der Hautflügler und Bauchfüßler“. Darf man nach Katastrophen wie Auschwitz überhaupt noch Gedichte schreiben? Im Jahr 1951 schreibt der Philosoph Theodor W. Ador- no einen Satz, der auch heute noch diskutiert wird: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barba- risch.“ Einerseits wollte Adorno sich damit gegen Ver­ suche wenden, mit Hilfe der Literatur in eine Welt der Idylle zu flüchten und die ungeheuren Vorgänge der jüngsten Geschichte zu ignorieren. Andererseits wollte er darauf aufmerksam machen, dass Dichtung das große Leiden des „unausdenklichen Schicksals“ der in den Vernichtungslagern Getöteten gar nicht adäquat wiedergeben könne. Noch ein drittes Anliegen ver­ birgt sich in Adornos Satz. Auch Literatur, die sich en­ gagiert und gegen Vernichtung und Mord anschreibt, ist problematisch, weil Literatur den Lesern/Leserin­ nen Freude bereitet und angenehm zu lesen ist. Damit „allein schon widerfährt den Opfern Unrecht“ . Denn aus den Opfern „wird etwas bereitet, Kunstwerke, der Welt zum Fraß vorgeworfen, die sie umbrachte“ . Die Autorin­ nen und Autoren der Epoche waren provoziert und griffen den Satz an. Sie stellten ihrerseits die Frage, ob nach Auschwitz, der Atombombe und der potenziellen Vernichtung des Planeten nicht nur Lyrik, sondern die Kunst überhaupt noch möglich sei, da sie doch gegen die Barbarei nichts ausrichten konnte. Nelly Sachs (1891–1970) und Paul Celan (1920–1970) beharren in ih­ ren Gedichten wie „O der weinenden Kinder Nacht“ (5) und „Todesfuge“ (Fokus) darauf, dass das Leiden, bei aller Gefahr ästhetisch zu wirken und deshalb miss­ braucht zu werden, dargestellt werden muss. Auf do­ kumentarische Weise versucht Peter Weiss Verbrechen und Grauen von Auschwitz zu vergegenwärtigen. In seinem Drama „Die Ermittlung“ (1965), einem „Oratori­ um in elf Gesängen“, gibt Weiss kommentarlos die Ver­ nehmung der Angeklagten und die Aussagen der Zeu­ gen in den Frankfurter Auschwitzprozessen 1963–65 wieder. Am eindringlichsten zur Sprache kommt das Grauen von Auschwitz nach dem Urteil vieler aller­ dings erst in dem Werk eines österreichischen Autors aus den 80er-Jahren, in „nachschrift“ von Heimrad Bä- cker (1925–2003) (6) . Die Kritik an der Nachkriegszeit Ab den späten 50er-Jahren entzweiten sich Literatur und Politik immer mehr. Der Kalte Krieg, die weltweite, teils atomare Aufrüstung, die oft problemlose Integra­ tion von NS-Größen in hohe politische und wirtschaft­ liche Positionen der BRD, das einseitige Setzen auf materiellen Wohlstand, die schnelle Etikettierung von kritischen Intellektuellen und Autoren/Autorinnen als gefährliche „Kommunisten“ werden zum Thema zahl­ reicher Romane wie „Tauben im Gras“ (1951) von Wolf­ gang Koeppen, „Mutmaßungen über Jakob“ (1959) von Uwe Johnson, „Die Blechtrommel“ (7) von Günter Grass (1927–2015), „Halbzeit“ (1960) von Martin Walser, „Das Brot der frühen Jahre“ (1955), „Billard um halb zehn“ (1959) und „Ansichten eines Clowns“ (8) von Heinrich Böll (1917–85) und „Deutschstunde“ (1968) von Sieg­ fried Lenz. Eine eigene epische Schreibweise ent­ wickelte Arno Schmidt (1914–79). Er versuchte in Wer­ ken wie „Leviathan“ (1949) oder „Brand’s Haide“ (1951) in eigenständiger Orthografie und Interpunktion und neuen Wortschöpfungen Geschichte, menschliches Le­ ben und Bewusstsein darzustellen. 2 4 6 Verbrennungsöfen im Krematorium des Vernichtungslagers Auschwitz, Foto, 1945 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus - Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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