Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
352 Literatur zwischen 1945 und 1968 „auch um den Preis der Poesie“ . So schreibt der Dichter Wolfgang Weyrauch (1907–80), Herausgeber der ersten großen Sammlung deutscher Kurzgeschichten mit dem Titel „Tausend Gramm“ (1949). Die Dichter waren den großen, schönen und pathetischen Wörtern ge genüber skeptisch geworden, zu sehr hatte der Natio nalsozialismus mit ihnen Schindluder getrieben: „Die Schönheit ist ein gutes Ding. Aber Schönheit ohne Wahrheit ist böse. Wahrheit ohne Schönheit ist besser.“ Weyrauchs Dichterkollege Wolfdietrich Schnurre (1920–89) formulierte folgenden Appell an die Auto ren: Zerschlagt eure Lieder verbrennt eure Verse sagt nackt was ihr müsst. Sprachskepsis Wolfgang Borchert (1921–47) ist einer der eindringlichs ten Verfechter dieser neuen Sprache, die auf Artistik und Schönheit verzichtet. In seinem programmatischen Text „Das ist unser Manifest“ schreibt er kurz vor sei nem frühen, durch Krieg und Haft verursachten Tod: Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns die Geduld. Wir brauchen die mit dem heißen heiser geschluchzten Gefühl. Die zu Baum Baum sagen und zu Weib Weib sagen und ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv. […] Nein, unser Wörterbuch, das ist nicht schön. Aber dick. Und es stinkt. Bitter wie Pulver. Sauer wie Steppensand. Scharf wie Scheiße. Und laut wie Gefechtslärm. Trümmerliteratur Borcherts Drama „Draußen vor der Tür“ und viele sei ner Kurzgeschichten berichten ebenso vom Leben in den Trümmern der Nachkriegszeit wie viele Texte von Wolfdietrich Schnurre. „Trümmerliteratur“ hat man auch deshalb vielfach die Literatur unmittelbar nach dem Krieg genannt. Die Autoren nahmen diese Etiket te als Ehrentitel. So schrieb Heinrich Böll (1917–85) im Jahr 1952 sein „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“: Die ersten schriftstellerischen Versuche unserer Generation nach 1945 hat man als Trümmerliteratur bezeichnet, man hat sie damit abzutun versucht. Wir haben uns gegen diese Bezeichnung nicht gewehrt, weil sie zu Recht bestand: tatsächlich, die Menschen, von denen wir schrieben, lebten in Trümmern, sie kamen aus dem Kriege, Männer und Frauen in gleichem Maße verletzt, auch Kinder. Und […] wir als Schreibende fühlten uns ihnen so nahe, dass wir uns mit ihnen identifizierten. Die beschränkte Anzahl von Themen Freilich ist dadurch auch die Anzahl der Themen der unmittelbaren Nachkriegsliteratur eher gering: der Kampf ums tägliche Überleben, das Dahinvegetieren als Kriegsgefangene, die Heimkehr in ein zerstörtes Land. Wolfgang Borchert gilt als Sprachrohr für diese Generation und diese Themen. Das Drama „Draußen vor der Tür“ und Kurzgeschichten wie „Nachts schlafen die Ratten doch“, „Das Brot“, „Die drei dunklen Könige“ oder „Die Küchenuhr“ sind Klassiker geworden. Sie ver decken aber, dass Borchert über diese Zeitthematik hinaus ein Meister der Kurzgeschichte ist. Deshalb wird Ihnen mit „Die Kirschen“ ein wenig bekannter Text Wolfgang Borcherts vorgestellt (1) . Für die Lyrik bilden Texte wie „Latrine“ von Günter Eich (1907–72) die klarsten Beispiele dieser neuen Literatur (2) . Die Thematisierung der Atombombenabwürfe im August 1945 über Japan geschieht in „Hiroshima“ von Marie Luise Kaschnitz (1901–74) (3) . Einer der bedeutendsten Lyriker weigert sich allerdings, Gedichte mit poli tischen Inhalten zu füllen: Gottfried Benn . Lyrik ist für ihn, wie das Gedicht „Bitte wo –“ zeigt, Kunst ohne Zweckgebundenheit (4) . Nach zwölf Jahren Diktatur wieder möglich: der Blick auf das Denken des Auslands Das NS-Regime hatte die Dichter und Dichterinnen Ös terreichs und Deutschlands weitgehend von der litera rischen Entwicklung im Ausland abgeschnitten. Umso stärker wurde nun diese Literatur beachtet. Vor allem amerikanische und französische Literatur beeinfluss ten die Dichtung. Aus den USA kam die neue Gattung der Short Story. Sie verzichtete auf psychologische Er klärungen und die Darstellung der Entwicklung von „Helden“. In ihrem Mittelpunkt stehen Durchschnitts menschen mit ihren Alltagsproblemen. Von Frankreich aus wirkten besonders die existenzialistischen Philo sophen Jean Paul Sartre (1905–80) und Albert Camus (1913–60). Ihre Essays, Romane und Dramen verkünde ten eine nach Krieg und Diktatur besonders offen auf genommene Philosophie. Für den Existenzialismus kann der Mensch sich frei entscheiden. Er kann und muss wählen, wie er sein Leben gestaltet, und hat Ver 2 4 2 4 6 8 10 2 4 6 8 10 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus - Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=