Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

350 Literatur zwischen 1945 und 1968 Elfriede Gerstl: april 1945 A bissal gfiacht A bissal gfreid hauptsach ausn kölla aussegräud Elfriede Gerstl (1932–2009), die Tochter eines jüdischen Arztes, überlebte die Zeit von 1938 bis 1945 versteckt in Wien; Ernst Jandl (1925–2000) überstand den Krieg an der Front in Frankreich. Verantwortung und Schuld Doch die Menschen mussten das Kriegsende auch als „Stunde der Wahrheit“ begreifen. Viele hatten sich der NS-Ideologie angeschlossen und waren somit für de­ ren Gräuel mitverantwortlich. „Uns’re Hände sind be- fleckt“ , gestand der Dichter Werner Bergengruen in ei­ nem Gedicht schon 1944 und fuhr fort: „Wir erbeben und erwarten, / stumm Geduckte, das Gericht.“ Max Frisch sah sich bei seiner Deutschlandreise hin- und hergerissen zwischen Verurteilung, Mitgefühl und der Aufforderung zur Erkenntnis des Getanen. Nur die we­ nigsten versuchten die Mitverantwortung an Krieg und Vernichtungslagern zu begreifen. Frisch sah einen Grund dafür im Elend des Landes: „Solange das Elend sie beherrscht, wie sollen sie zur Erkenntnis jenes ande- ren Elendes kommen, das ihr Volk über die halbe Welt gebracht hat? Ohne diese Erkenntnis jedoch wird sich ihre Denkart nie verwandeln; sie werden nie ein Volk unter Völkern, was unsrer Meinung nach das eigentli- che Ziel ist.“ Der deutsche Philosoph Karl Jaspers, der unter ständiger Lebensgefahr in Deutschland geblie­ ben war, unterschied zwischen krimineller, politischer und moralischer Schuld. Kriminelle und politische Schuld – umittelbare Beteiligung an Verbrechen oder an den NS-Organisationen – waren meist konkret fest­ stellbar. Die moralische Verantwortung der Deutschen sah Jaspers differenziert: schuldig „ja – sofern wir ge- duldet haben, dass ein solches Regime bei uns ent- stand […]. Nein – sofern viele von uns in ihrem inners- ten Wesen Gegner all dieses Bösen waren […].“ Eine neue Bedrohung In seiner 1956 erschienenen Analyse der modernen Welt, die den Titel „Die Antiquiertheit des Menschen“ trägt, untersucht der österreichische Philosoph Günther Anders die neue Situation des Menschen nach dem Krieg. Mit der Möglichkeit des technisierten Mas­ senmords in den Konzentrationslagern und der Her­ stellung von Atom- und Wasserstoffbomben ergibt sich eine bisher unbekannte Situation. Die „Apokalypse“ , wie Anders den Massentod in den Lagern und die Aus­ wirkungen der Atombombe nennt, übersteigt alle Vor­ stellungen und möglichen Gefühle: „Zehn Ermordete zu bereuen oder zu beweinen, sind wir unfähig. […] Vor- stellen können wir [uns] die zehn Toten vielleicht. Zur Not. Aber töten – können wir Zehntausende. Ohne wei- teres. Und die Leistungssteigerung wäre und ist kein Problem. […] Vor unserem eigenen Sterben können wir Angst haben. Schon die Todesangst von zehn Menschen nachzufühlen, ist uns zuviel. Vor dem Gedanken der Apo- kalypse aber streikt die Seele.“ Anders warnt jedoch da­ vor, diese Katastrophen gegeneinander auszuspielen. Sowohl die Vernichtung des europäischen Judentums im NS-Staat als auch der Einsatz der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki haben zwar gemeinsame Wurzeln im ökonomischen und technischen Denken. Auschwitz aber ist für Anders das schlechthin „Mons- tröse“ und „moralisch ungleich entsetzlichere Ereignis“ , denn es bedürfe einer größeren Gemütsverhärtung, ein Kind in die Gaskammer zu führen, als eine Bombe auf es zu werfen. In den Konzentrationslagern wurden die Menschen zum „Rohstoffdasein“ degradiert. Sie wurden missbraucht als „Material“ der Vernichtung, das „die ungewöhnliche Eigenschaft besessen hat, se- hen, hören und fühlen zu können“ . Das Schreckliche der Tragödie von Hiroshima und Nagasaki sieht Anders in dem Faktum, dass die Täter unsichtbar bleiben und mit der Atombombe Städte und Länder in Sekundenbruch­ teilen zerstört werden können. Der Kalte Krieg, Wirtschaftswunder und Verdrängung Im Oktober 1949 erklärt sich die von den Sowjets be­ setzte Zone Deutschlands zum selbstständigen „Ers­ ten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“, nachdem bereits im Mai 1949 die BRD aus den drei westlichen Besatzungszonen gebildet worden ist. Der 2 Luftaufnahme der zerstörten deutschen Stadt Dresden, 1945 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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