Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

35 Hochmittelalter (1170–1250) 6 Die Sorge um das Reich und um sich selbst Die politischen und polemischen Sprüche Walthers von der Vogelweide (um 1200) Walther: der erste politische Dichter des Mittelalters Sprüche sind im Mittelalter ebenso gesungen worden wie Lieder. Vor Walther von der Vogelweide war Spruchdichtung vor allem lehrhaft. Ihr Inhalt: religiöse Anweisungen, Tugendlehren, praktische Tipps für den Alltag, Lob des Herrschers. Walther setzt als erster deutscher Dichter die Sprüche als polemisch-partei­ ische, propagandistische und persönliche Waffe ein. Die Sorge um das Reich und um sich selbst Nachfolgewirren nach dem unerwarteten Tod des deutschen Kaisers Heinrich VI. machen Walther zum politischen Dichter. Staufer und Welfen kämpfen um die Herrschaft. Frankreich, England und der Papst schalten sich ein. Die Fürsten wechseln nicht nur ein­ mal die Fronten zwischen den Kandidaten für die Kro­ ne. Ein Reich in Unordnung kann auch Walther nicht gleichgültig lassen. Zu wichtig ist politische Stabilität für einen Dichter, der auf Kaiser, Fürsten und Höfe als „Sponsoren“ angewiesen ist. Häufig wechselt er die Fronten, er steht immer auf der Seite derer, die ihm den Zusammenhalt des Reiches zu gewährleisten scheinen. Zu höchster Scharfzüngigkeit bringt es Walther immer dann, wenn es gegen Papst Inno­ zenz III. geht, den er als gefährlichen Gegner des Rei­ ches sieht. Der Beginn des ersten Reichsspruchs in mittelhoch- deutscher Sprache Ich saz ûf eime steine, und dahte bein mit beine; dar ûf satzt ich den ellenbogen; ich hete in mîne hant gesmogen daz kinne und ein mîn wange. dô dâhte ich mir vil ange, wie man zer werlte solte leben […]. „Vokabular“: ange = bange; welte = Welt Der zweite Reichsspruch Ich hörte die Wasser rauschen und sah die Fische schwimmen, ich sah alles, was in der Welt war, Wald, Feld, Laub, Röhricht und Gras, alles, was schwimmt oder fliegt oder Beine zur Erde biegt, das sah ich und sage Euch dies: keines lebt ohne Feindschaft. Das Wild und die Kriechtiere, die führen heftige Kämpfe, ebenso halten es die Vögel untereinander, nur, dass sie in einem eines Sinnes sind, – sie wären anders nicht lebensfähig – sie schaffen gute Regierungen, sie setzen Könige und Rechtsordnungen ein und unterscheiden Herren und Knechte. Dagegen – weh Dir, deutsches Volk, wie steht es um Deine Ordnung, während nun die Mücke ihren König hat, aber Deine Ehre so ganz schwindet! Bekehre Dich endlich, bekehre Dich! […] 2 4 6 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 ■■ Lesen Sie den Beginn des so genannten „Ersten Reichsspruchs“ in mittelhochdeut­ scher Sprache und die Übertragung des „Zweiten Reichsspruchs“ und erläutern Sie folgende Aspekte: Auf welchen der beiden Sprüche bezieht sich das Bild Walthers von der Vogelweide aus der berühmten „Heidelberger Liederhandschrift“ (S. 33), die am Beginn des 14. Jahrhunderts entstand und in 137 Portraits die bedeutends­ ten Dichter des Mittelalters präsentiert? Versuchen Sie mit Hilfe des Bildes diese Verse zu „übersetzen“. ■■ Analysieren Sie, welche Parallelen zwischen Tieren und Menschen der „Zweite Reichs­ spruch“ sieht und welche Unterschiede er betont. ■■ Erläutern Sie, wozu der Dichter die Deut­ schen aufruft (siehe dazu „Info“ S. 36). Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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