Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
346 Literatur zwischen 1925 und 1945 Holger Dambeck: Schwarmintelligenz: Gemeinsam sind wir dümmer Die Welt wird immer komplizierter, wie soll man da als Einzelner noch den Überblick behalten? Auf sich allein gestellt erscheint das unmöglich – aber wenn Hunderte oder Tausende Menschen sich zusammen- tun, sieht die Sache schon anders aus. Der Mensch profitiert von der sogenannten Schwarmintelligenz, der Weisheit der Vielen. Dass Menschen gemeinsam bessere Entscheidungen treffen als einer allein, haben Experimente schon mehrfach bewiesen. So können Personen das Gewicht eines Bullen relativ präzise be- stimmen, wenn sie einfach den Mittelwert ihrer Schätzungen nehmen. Aber es gibt auch immer wieder Zweifel an der Weisheit der Vielen. Ein Forscherteam von der Eidge- nössischen Technischen Hochschule Zürich hat nun in einem Experiment gezeigt, wie schnell Schwarmin- telligenz in Schwarmdummheit umschlagen kann. Sobald Menschen erfahren, dass andere über ein Pro- blem anders denken als sie selbst, ändern sie ihre ei- gene Meinung – zumindest ein bisschen. Dirk Helbing und seine Kollegen stellten 144 Stu- denten der ETH Zürich sechs verschiedene Fragen. Unter anderem wollten sie wissen, wie hoch die Be- völkerungsdichte in der Schweiz ist, wie viele Kilo- meter die Grenze zwischen der Schweiz und Italien misst und wie viele Morde es im Vorjahr im Land der Eidgenossen gegeben hat. Sämtlich Zahlen, die jeder irgendwann schon gehört hat, aber kaum genau kennt. Die Weisheit der Vielen wurde auf zwei verschie- dene Arten berücksichtigt. Ein Teil der Probanden erfuhr nach der ersten eigenen Schätzung den Mittel- wert aller anderen Studienteilnehmer, denen dieselbe Frage gestellt worden war. Ein anderer Teil der Pro- banden bekam sogar die Schätzwerte aller anderen Teilnehmer vorgelegt. Jede Frage wurde fünfmal wie- derholt. Am Anfang und am Ende wurden die Pro- banden zudem gefragt, wie sicher sie sich mit ihrer eigenen Schätzung sind. Bei fast allen Fragen zeigte sich, dass die zuerst ge- gebenen Antworten im Durchschnitt die besten wa- ren. Je mehr die Probanden über die Schätzungen der anderen Studienteilnehmer wussten, umso mehr sank die Schwarmintelligenz. Die Schätzwerte der einzel- nen Probanden näherten sich immer mehr an, ohne dass der Mittelwert dem tatsächlichen Wert näher kam. Das Experiment zeige, dass sozialer Einfluss die Diversität der Antworten verringere, nicht jedoch den kollektiven Fehler, schreiben die Forscher im Wissenschaftsblatt „Proceedings of the National Aca- demie of Sciences“. Gleichzeitig seien sich die Teil- nehmer auch immer sicherer gewesen, dass ihre eige- ne Schätzung stimme, obwohl dies objektiv nicht der Fall war. Dieses Phänomen bezeichnen die Wissen- schaftler als Vertrauenseffekt. […] „Wenn Menschen sehen, wie andere Menschen denken und entschei- den, konvergieren die Meinungen“, sagt Helbing. Die- ser Effekt betreffe alle Gremien in Politik und Wirt- schaft, überall, wo man zusammensitze und diskutie- re. „Ein derartig zustande gekommener Konsens kann eine schlechte Entscheidung sein.“ Sich an an- deren Menschen zu orientieren, sei nicht automatisch gut, warnt der ETH-Forscher. „Es ist wichtig, ein Meinungsspektrum zu kultivieren und nicht von Vornherein auf Konsens zu gehen.“ Abweichende Meinungen seien wichtig, auch, um kritisch zu blei- ben gegenüber der eigenen Meinung. „Mit dem Begriff Schwarmintelligenz bin ich nicht so glücklich“, sagt Helbing. Er passe sicher gut für Fische oder Vögel, „wir Menschen verhalten uns jedoch nicht einfach so wie Schwärme.“ Dass Proban- den sich nach und nach in ihren Schätzungen immer mehr annähern, erklärt der Wissenschaftler mit dem Herdentrieb, den es unbestrittenerweise unter Men- schen gibt. Um die Weisheit der Vielen trotzdem nut- zen zu können, ist es wichtig, dass der Einzelne bei seiner Entscheidung nicht weiß, wie die anderen ent- scheiden. „Das ist auch Grundlage der repräsentati- ven Demokratie“, sagt Helbing. Die kollektive Weis- heit funktioniere gut, solange Menschen unabhängig voneinander wählen könnten. http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/schwarmintelligenz-gemeinsam-sind-wir-duemmer-a-762837.html, 17.05.2012; abgerufe n 23.04.2019. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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