Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

344 Literatur zwischen 1925 und 1945 Text 1: Lukas Kristl: „Vor Gericht ist das Betrug“, Münchner Post, 13./14.7.1929 Die junge Angeklagte reiste in Korsetts. Auf der Su- che nach einer neuen Reisevertretung kam sie zu ei- nem Kaufmann in G., dem sie als Verkaufskanone empfohlen war. Der Mann engagierte sie. Notwendig war nur noch ein Wandergewerbeschein, der 200 Mark kostete, ein Betrag, den die neue Vertreterin nicht aufzubringen vermochte. Der Geschäftsherr streckte ihr daher auf ihr Ersuchen das Geld vor. Die Angeklagte bat brieflich die Eltern in K., ihr diesen Wandergewerbeschein zu besorgen. Diese wandten sich ans Gewerbeamt und erhielten dort den Bescheid, die Antragstellerin müsse selber kommen. Diese hatte inzwischen das vorgestreckte Geld dazu benutzt, eine dringliche Reststrafe von 110 M. zu be- zahlen, andernfalls sie ins Gefängnis hätte müssen und so die neue Existenz zum Teufel gegangen wäre. Sie wendete das eine Unglück ab. Allein das andere kam sogleich. Sie erkrankte nach 14 Tagen und muss- te mehrere Monate im Krankenhaus liegen. Nun klagte der Kaufmann wegen Betrug. Dem Gericht er- klärte er, er habe sich vor allem deshalb zu dem Kre- dit von 200 M. für den Wandergewerbeschein herbei- gelassen, weil die Angeklagte ihm gegenüber ihren Vater als Zollinspektor ausgegeben habe. Die Ange- klagte bestritt dies. Von einem Zollbeamten sei keine Rede gewesen. Sie habe Versicherungsbeamter gesagt, was ihr Vater auch sei. Da müsse ein Hörfehler vorlie- gen. Im übrigen sei sie der Meinung gewesen, dass sie das Geld für den Schein längst verdient habe, bis die- ser aus K. käme. Durch diese Rechnung habe ihr die plötzliche Erkrankung einen Strich gemacht. Der Staatsanwalt hielt die junge Korsettreisende für sehr raffiniert. Er bezweifelte sehr, ob ihr Versuch, durch die Eltern in K. einen Wandergewerbeschein zu er- halten, überhaupt ernst gemeint war. [...] Der Vertei- diger bemühte sich um einen Freispruch. Er plädier- te: Selbst wenn die Angeklagte ihren Vater als Zollin- spektor ausgegeben hätte, was nicht stimmt, so läge hier trotzdem noch kein Betrug vor, weil die Betrugs- absicht gefehlt habe. Die Angeklagte habe sich ernst- haft um einen Schein bemüht. Dafür, dass sie dann erkrankt sei, könne sie nichts. Das Gericht sagte so: Nach seiner Meinung habe sich die Angeklagte schon um einen Schein bemüht, aber zunächst das Geld entgegen seiner Bestimmung zur Bezahlung einer Strafe verwendet. Wenn man auch anerkennen müsse, dass sie bestrebt gewesen sei, die Sache wiedergutzumachen, so habe andererseits doch gerade die Zusicherung, dass der Vater Zollbeamter sei, den Zeugen wesentlich zur Hergabe des Geldes be- stimmt. Das Urteil lautete wegen Betrugs im Rückfall auf die Mindeststrafe von 3 Monaten Gefängnis. Text 2: Thomas Fischer: Über das Leben der Klara Gramm (1900–1979) Die Familie zog kurz nach der Geburt von Klara (ver- mutlich 1902) nach Kempten im Allgäu, wo der Vater in einer Rechtskanzlei Arbeit fand. Wie die wirt- schaftlichen Verhältnisse der Familie waren, ist un- klar, sie scheinen aber nicht sehr gut gewesen zu sein, da Klara schon in früher Kindheit durch Milchaus- tragen mitverdienen musste. 1907 wurde Klara einge- schult, 1916 oder 1917 erreichte sie den Hauptschul- abschluss. Nach Auskunft des Bruders war sie eine gute Schülerin: ihr wurde ein Freiplatz auf dem Gym- nasium angeboten. Die Eltern aber waren dagegen. Nach dem Hauptschulabschluss machte Klara eine Schneiderlehre, die sie aber nicht beendete; sie wollte lieber herumreisen. [...] Nach Kriegsende kehrte sie nach Kempten zurück und schlug sich nun als Vertre- terin eines Miederwarengeschäfts mehr schlecht als recht durchs Leben. [...] Wie aus Berichten des Bru- ders bzw. dessen Frau hervorgeht, hatte Klara 1927 oder 1928 in Kempten einen verheirateten Polizisten kennengelernt und mit ihm ein Verhältnis begonnen. Der Polizist wollte sich schuldlos scheiden lassen und verleitete Klara zu der falschen gerichtlichen Aussage, dass keine sexuellen Beziehungen zwischen ihr und ihm bestünden. Die Aussage erfolgte unter Eid, die Wahrheit stellte sich aber heraus und Klara wurde vom Amtsgericht Kempten zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach der Verbüßung ihrer Strafe kehrte sie zeitweise ins Elternhaus zurück, begann aber bald wieder als Vertreterin von Miederwaren herumzurei- sen. [...] Klara hat ihr Reiseleben bis ca. 1969 geführt und hauptsächlich im Bodenseeraum Miederwaren vertrieben. Sie hat dann in ihrer Wohnung in Kemp- ten gelebt, unterstützt von ihren Geschwistern und der Fürsorge. Als sie mit zunehmendem Alter kör- perlich und geistig immer hilfloser geworden ist, war ihr Umzug ins Altenheim dringend geboten. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 5 10 15 20 25 30 35 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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