Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
334 Literatur zwischen 1925 und 1945 Damals mochte in mir die prophetische Ahnung sehr stark gewesen sein, die Ahnung, dass diese meine Kameraden wohl imstande seien, eine Offiziersprüfung zu bestehen, keineswegs aber einen Krieg. Zu sehr verwöhnt aufgewachsen waren sie in dem von den Kronländern der Monarchie unaufhör- lich gespeisten Wien, harmlose, beinahe lächerlich harmlose Kinder der verzärtelten, viel zu oft besungenen Haupt- und Residenzstadt, die einer glänzenden, verführerischen Spinne ähnlich, in der Mitte des gewaltigen, schwarzgelben Netzes saß und unaufhörlich Kraft und Saft und Glanz von den umliegenden Kronländern bezog. Von den Steuern, die mein armer Vetter, der Maronibrater Joseph Branco Trotta aus Sipolje, von den Steuern, die mein elendiglich lebender jüdischer Fiaker Manes Reisiger aus Zlotogrod bezahlten, lebten die stolzen Häuser am Ring, die der baronisierten jüdischen Familie Todesco gehörten, und die öffentlichen Gebäude, das Parlament, der Justizpalast, die Universität, die Bodenkreditanstalt, das Burgtheater, die Hofoper und sogar noch die Polizeidirektion. Die bunte Heiterkeit der Reichs-, Haupt- und Residenzstadt nährte sich ganz deutlich – mein Vater hatte es so oft gesagt – von der tragischen Liebe der Kronländer zu Österreich: der tragischen, weil ewig unerwiderten. Die Zigeuner der Puszta, die subkarpathischen Huzulen, die jüdischen Fiaker von Galizien, meine eigenen Verwandten, die slowenischen Maronibrater von Sipolje, die schwäbi- schen Tabakpflanzer aus der Bacska, die Pferdezüch- ter der Steppe, die osmanischen Sibersna, jene von Bosnien und Herzegowina, die Pferdehändler aus der Hanakei in Mähren, die Weber aus dem Erzge- birge, die Müller und Korallenhändler aus Podolien: sie alle waren die großmütigen Nährer Österreichs; je ärmer, desto großmütiger. Erklären Sie, welche Ursachen Trotta für den Untergang der Monarchie sieht und wie er das Verhältnis Wiens zu den Kronländern des Habsburgerreiches beurteilt. Die Auslöschung der Monarchie Im November 1918 ist der Krieg für Österreich verloren. Der ehemalige Leutnant Trotta kehrt nach Wien zu rück. Am Weihnachtsabend des Jahres 1918 kehrte ich heim. Elf zeigte die Uhr am Westbahnhof. Durch die Mariahilferstraße ging ich. Ein körniger Regen, missratener Schnee, kümmerlicher Bruder des Hagels, fiel in schrägen Strichen vom missgünstigen Himmel. Meine Kappe war nackt, man hatte ihr die Rosette abgerissen. Mein Kragen war nackt, man hatte ihm die Sterne abgerissen. Ich selbst war nackt. Die Steine waren nackt, die Mauern und die Dächer. Nackt waren die spärlichen Laternen. Der körnige Regen prasselte gegen ihr mattes Glas, als würfe der Himmel sandige Kiesel gegen arme große Glasmur- meln. Die Mäntel der Wachtposten vor den öffentli- chen Gebäuden wehten, und die Schöße blähten sich, trotz der Nässe. Die aufgepflanzten Bajonette erschienen gar nicht echt, die Gewehre hingen halb schief an den Schultern der Leute. Es war, als wollten sich die Gewehre schlafen legen, müde, wie wir, von vier Jahren Schießen. Ich war keineswegs erstaunt, dass mich die Leute nicht grüßten, meine nackte Kappe, mein nackter Blusenkragen verpflich- teten niemanden. Ich rebellierte nicht. Es war nur jämmerlich. Es war das Ende. Ich dachte an den alten Traum meines Vaters, den von einer drei fältigen Monarchie, und, dass er mich dazu be- stimmt hatte, einmal seinen Traum wirklich zu machen. Mein Vater lag begraben auf dem Hietzin- ger Friedhof, und der Kaiser Franz Joseph […] in der Kapuzinergruft. Ich war der Erbe, und der körnige Regen fiel über mich, und ich wanderte dem Hause meines Vaters und meiner Mutter zu. Ich machte einen Umweg. Ich ging an der Kapuziner- gruft vorbei. Auch vor ihr ging ein Wachtposten auf und ab. Was hatte er noch zu bewachen? Die Sarkophage? Das Andenken? Die Geschichte? Ich, ein Erbe, ich blieb eine Weile vor der Kirche stehen. Der Posten kümmerte sich nicht um mich. Ich zog die Kappe. Dann ging ich weiter, dem väterlichen Hause zu, von einem Haus zum andern. 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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