Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
328 Literatur zwischen 1925 und 1945 gleich der abgelöste an derselben Ecke vorbei. Sturm prüfte noch einmal das Visier, entsicherte und richtete ein. Jetzt war es da: ein Kopf unter flachem, graugrü- nem Helm und ein Stück Schulter, überragt von der Mündung des umgehängten Gewehrs. Sturm zögerte, als der Kopf auf dem Schnittpunkt des Fernrohrfaden- kreuzes stand. Das Land lag wieder ruhig und tot, nur die weißen Schierlingsdolden zitterten vor Glanz. Hatte er getroffen? Er wusste es nicht. Doch ob der Mensch da drüben jetzt den Lehm der Grabensohle rot färbte oder nicht, das war nicht das, was hier in Frage stand. Das Erstaunliche war, dass er, Sturm, eben versucht hatte, einen anderen zu töten, kalt, klar und äußerst bewusst. Und wieder drängte sich ihm die Frage auf: War er noch derselbe wie vor einem Jahr? der Mann, der noch kürzlich an einer Doktorarbeit „Über die Vermehrung der Amoeba proteus durch künstliche Teilung“ geschrieben hatte? War ein größerer Gegensatz denkbar als zwischen einem Menschen, der sich liebevoll in Zustände versenkte, in denen das noch flüssige Leben sich um winzige Kerne ballte, und einem, der kaltblütig auf höchstentwickelte Wesen schoss? Denn der da drüben konnte ebensogut in Oxford studiert haben wie er in Heidelberg. Ja, er war ein ganz anderer geworden, anders nicht nur in der Tat, sondern – und das war das Wesentliche – auch im Gefühl. Denn dass er auch nicht einen Augenblick Reue, sondern eher Befriedigung empfand, das deutete auf eine im tiefsten verwandelte Sittlichkeit […]. Ausschnitt 3, „Sturm“ Krieg war wie Sturm, Hagel und Blitz, er stampfte ins Leben, achtlos wohin. In den Tropen gab es Wirbel- winde, die wie wilde Tiere durch die ungeheuren Wälder rasten. Sie knickten gefiederte Palmenbäume oder rissen sie mit den Wurzeln aus und stießen andere damit zu Boden. Sie fegten die großen, nach Vanille duftenden Orchideen von den Zweigen und töteten Scharen der funkelnden Kolibris. Sie schwemmten unsäglich bunten Schmetterlingen den Schmelz von den Flügeln und warfen die jungen Papageien aus dem Nest. Und doch nahm die Natur diese Verwüstung ihres Bildes gleichmütig hin und brachte neue und schönere Wesen hervor. Ausschnitt 4, „In Stahlgewittern“ Da erblickte ich den ersten Feind. Eine Gestalt in brauner Uniform, anscheinend verwundet, kauerte zwanzig Schritt voraus in der Mitte der zertrommel- ten Mulde […]. Wir nahmen uns wahr, als ich um eine Windung bog. Ich sah sie bei meinem Erschei- nen zusammenfahren und mich mit weit geöffneten Augen anstarren, während ich, das Gesicht hinter der Pistole verborgen, mich langsam und bösartig näherte. Ein blutiger Auftritt ohne Zeugen bereitete sich vor. Es war eine Erlösung, den Widersacher endlich greifbar zu sehen. Ich setzte die Mündung an die Schläfe des vor Angst Gelähmten, die andere Faust in seinen Uniformrock krallend, der Orden und Rangabzeichen trug. Ein Offizier; er musste in diesen Gräben kommandiert haben. Mit einem Klagelaut griff er in seine Tasche, aber er zog keine Waffe, sondern ein Lichtbild aus ihr hervor, das er mir vor die Augen hielt. Ich sah ihn darauf, von einer vielköpfigen Familie umgeben, auf einer Terrasse stehen. Das war eine Beschwörung aus einer versun- kenen, unglaublich fernen Welt. Ich habe es später als ein großes Glück betrachtet, dass ich ihn losließ und weiter vorstürzte. Gerade dieser eine erschien mir noch oft im Traum: Das ließ mich hoffen, dass er die Heimat wiedergesehen hat. […] Ich sprang in den ersten Graben; um die nächste Schulterwehr stürzend, stieß ich mit einem englischen Offizier in offener Jacke und heraushängender Halsbinde zusammen; ich packte ihn und schleuderte ihn gegen einen Sandsackwall. Hinter mir tauchte der weißhaa- rige Kopf eines Majors auf, der mir zuschrie: ‚Schlag den Hund tot!‘ Das war unnötig. ■■ Ordnen Sie den vier Abschnitten folgende Inhalte zu: –– Krieg verändert die Persönlichkeit, Töten wird nicht mehr als Schuld empfunden; –– Krieg erscheint als unvermeidbares, naturhaf tes Phänomen; –– einem Moment der Humanität folgt das Töten; –– Krieg degradiert die Menschen zur anony men Masse von Opfern und Tätern. –– Geben Sie die Gedanken von Sturm aus Ausschnitt 2 wieder, untersuchen Sie die Handlungen des „Ich“ und das Geschehen in Ausschnitt 4. 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwe ken – Eigentum des Verlags öbv
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