Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

324 Literatur zwischen 1925 und 1945 4 „Rücksichtslos gegen Dummheit und Lüge“ Ödön von Horváth: „Glaube Liebe Hoffnung. Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern“ (1933) Das Drama der „kleinen Leute“ Glaube, Liebe, Hoffnung sind für die christliche Reli­ gion die höchsten Tugenden. Sie führen zu Glückselig­ keit und ewigem Leben. Ganz anders ist das allerdings in den Dramen Horváths. Seine Stücke führen gesell­ schaftliche Verhältnisse vor, in denen gerade diejeni­ gen untergehen, die glauben, lieben und hoffen. Die Feigen und Korrupten leben nicht nur ungehindert weiter, sie haben auch Erfolg. Der Untertitel symboli­ siert die unaufhaltsam aufeinander folgenden Statio­ nen des Leidenswegs eines durch wirtschaftliche Not und Mitmenschen erdrückten Menschen. Der Kampf um den Wandergewerbeschein Elisabeth, die Hauptfigur des Dramas, versucht, ihren Körper für 150 Mark an ein Anatomisches Institut zu verkaufen, um ihn nach ihrem Tod der Medizin zur Ver­ fügung zu stellen. Mit dem Geld will sie einen „Wan- dergewerbeschein“ bezahlen. Sie braucht ihn, um als Vertreterin für Damenwäsche, „Hüftgürtel, Korsetts en gros“, im Geschäft von Irene Prantl ihr Leben fristen zu können. Der Leichenpräparator weist sie darauf hin, dass das Anatomische Institut keine Leichen im Vor­ aus kaufe, er leiht ihr aber die benötigte Summe, weil sie die Tochter eines „Inspektors“ ist. Die folgenden Szenen spielen im Laden von Irene Prantl. Szene 1 Die Prantl ist besonders in ihrem geschäftlichen Leben eine geschwätzige Person. Jetzt hantiert sie auf ihrem Schreibtisch mit Abrechnungen, und zwar hat sie es recht wichtig. Vor ihr sitzt eine Frau Amtsgerichtsrat. Im Hintergrunde stehen Wachs- puppen mit Korsett, Hüfthalter, Büstenhalter und dergleichen – in Reih und Glied, ähnlich wie die Köpfe im Anatomischen Institut. Die Prantl: […] Hochachtung, Frau Amts­ gerichtsrat! Sieben Hüfthalter, sechs Korsetts, elf Paar Straps in knapp drei Tagen – gratuliere! […] Besser als manche Berufsverkäuferin! Ein Talent! Frau Amtsgerichtsrat: Mein Gott, unsereins hat halt so seine bestimmten gesellschaftlichen Bekanntenkreise, die wo einer Frau Amtsgerichts- rat kaum einen Korb geben wollen – Die Prantl: Zu bescheiden, zu bescheiden! Das Verkaufen ist heutzutage kein Kinderspiel, die Leut schlagen einem die Tür vor der Nase zu! Frau Amtsgerichtsrat: Aber es bleibt doch dabei: Wenn jemand fragen sollte, dann sagen Sie selbstredend, ich verkaufe das nur von wegen persönlicher Zerstreuung und so – Die Prantl: Ist doch sonnenklar, wollte sagen: bleibt unter uns! […] Szene 2 Elisabeth tritt ein. Die Prantl: Grüß Gott, tritt ein, zeigens her – habens Ihr Pensum hinter sich? Elisabeth: Hier – Sie überreicht der Prantl ihr Bestellbuch. Die Prantl blättert: Was? Zwei Paar Straps, einen Hüfthalter und ein Korsett, das ist doch radikal nichts! Elisabeth: Das Verkaufen ist heutzutage kein Kinderspiel, die Leut schlagen einem die Tür vor der Nase zu. Die Prantl: Also nur keine Gemeinplätze! Sie als Vertreterin müssen bei der Kundschaft den Schönheitssinn entwickeln! […] Sie müssen Ihnen halt mehr an die Herren der Schöpfung halten, Porträt Ödön von Horvath, Foto, 1929 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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