Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
323 Literatur zwischen 1925 und 1945 auf hinweist, dass die Umwälzung notwendig ist. Brecht weigert sich, Patentlösungen für Konflikte anzugeben. Das würde dem Wesen seines Theaters widersprechen, das Widersprüche aufdecken und zum Denken provozie ren soll. Im folgenden Auszug ist die Begegnung Galileis mit einem Mönch dargestellt, der Galilei vom Beschluss der Kirchenbehörde, der Heiligen Kongregation, infor miert, die heliozentrische Lehre zu verurteilen. Der kleine Mönch: Erlauben Sie, daß ich von mir rede. Ich bin als Sohn von Bauern in der Campagna aufgewachsen. Es sind einfache Leute. Sie wissen alles über den Ölbaum, aber sonst recht wenig. […] Es geht ihnen nicht gut, aber selbst in ihrem Unglück liegt eine gewisse Ordnung verborgen. Da sind diese verschiedenen Kreisläufe, von dem des Bodenaufwischens über den der Jahreszeiten im Ölfeld zu dem der Steuerzahlung. Es ist regelmäßig, was auf sie herabstößt an Unfällen. Der Rücken meines Vaters wird zusam- mengedrückt nicht auf einmal, sondern mit jedem Frühjahr im Ölfeld mehr, so wie auch die Gebur- ten, die meine Mutter immer geschlechtsloser gemacht haben, in ganz bestimmten Abständen erfolgten. Sie schöpfen die Kraft, ihre Körbe schweißtriefend den steinigen Pfad hinaufzu schleppen, Kinder zu gebären, ja zu essen, aus dem Gefühl der Stetigkeit und Notwendigkeit, das der Anblick des Bodens, der jedes Jahr von neuem grünenden Bäume, der kleinen Kirche und das Anhören der sonntäglichen Bibeltexte ihnen verleihen können. Es ist ihnen versichert worden, daß das Auge der Gottheit auf ihnen liegt, for- schend, ja beinahe angstvoll; daß das ganze Welttheater um sie aufgebaut ist, damit sie, die Agierenden, in ihren großen oder kleinen Rollen sich bewähren können. Was würden meine Leute sagen, wenn sie von mir erführen, daß sie sich auf einem kleinen Steinklumpen befinden, der sich unaufhörlich drehend im leeren Raum um ein anderes Gestirn bewegt, einer unter sehr vielen, ein ziemlich unbedeutender! Wozu ist jetzt noch solche Geduld, solches Einverständnis in ihr Elend nötig oder gut? Wozu ist die Heilige Schrift noch gut, die alles erklärt und als notwendig begründet hat, den Schweiß, die Geduld, den Hunger, die Unterwer- fung, und die jetzt voll von Irrtümern befunden wird? Nein, ich sehe ihre Blicke scheu werden, ich sehe sie die Löffel auf die Herdplatte senken, ich sehe, wie sie sich verraten und betrogen fühlen. Es liegt also kein Auge auf uns, sagen sie. Wir müssen nach uns selber sehen, ungelehrt, alt und ver- braucht, wie wir sind? Niemand hat uns eine Rolle zugedacht außer dieser irdischen, jämmerlichen auf einem winzigen Gestirn, das ganz unselbständig ist, um das sich nichts dreht? Kein Sinn liegt in unserem Elend, Hunger ist eben Nichtgegessenha- ben, keine Kraftprobe; Anstrengung ist eben Sichbücken und Schleppen, kein Verdienst. Verstehen Sie da, daß ich aus dem Dekret der Heiligen Kongregation ein edles mütterliches Mitleid, eine große Seelengüte herauslese? Galilei: Seelengüte! […] Ihre Campagnabauern bezahlen die Kriege, die der Stellvertreter des milden Jesus in Spanien und Deutschland führt. Warum stellt er die Erde in den Mittelpunkt des Universums? Damit der Stuhl Petri im Mittel- punkt der Erde stehen kann! […] Sie haben recht, es handelt sich nicht um die Planeten, sondern um die Campagnabauern. […] Der kleine Mönch in großer Bewegung: Es sind die allerhöchsten Beweggründe, die uns schwei- gen machen müssen, es ist der Seelenfrieden Unglücklicher! ■■ Untersuchen Sie, welche Argumente der Mönch und Galilei jeweils für Ihre Position anführen. ■■ Beurteilen Sie, ob und in welchen Bereichen der Naturwissenschaft man Ihrer Meinung nach Grenzen setzen sollte. Kommentieren Sie dazu einen Satz aus dem Drama „Die Physiker“ von Friedrich Dürren matt (1962), in dem der Autor die Verantwortung der Wissenschaft für nicht mehr möglich hält: „Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis tödlich. Es gibt für uns Physiker nur mehr die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde. Wir müssen unser Wissen zurücknehmen.“ ■■ Erörtern Sie, ob Ihrer Ansicht nach wissenschaftliche Erkenntnisse „zurückgenommen“ werden können. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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