Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

321 Literatur zwischen 1925 und 1945 2 „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist!“ Bertolt Brecht: „Schlechte Zeit für Lyrik“ und „Morgens und abends zu lesen“ (1938) Keine Chance für schöne Gefühle Bertolt Brecht hält Naturgedichte für genauso proble­ matisch wie Gefühlslyrik. In einer Zeit, in der mit Bu­ chenwald und Birkenau keine schönen Waldlandschaf­ ten gemeint sind, sondern die Konzentrationslager des NS-Regimes, muss Lyrik für Brecht Bewusstsein schärfen, politische Kritik provozieren. Natürlich be­ dauert der Dichter den Verlust der altbeliebten lyri­ schen Themen. Doch die Zeit erlaubt keine Flucht in die Idylle: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schwei- gen über so viele Untaten einschließt!“ , so formuliert Brecht in dem Gedicht „An die Nachgeborenen“ das Dilemma des Dichtens. Es herrschen „schlechte Zeiten“ für die Lyrik klassischen oder romantischen Stils. Auch Brecht schreibt Liebesgedichte, allerdings sehr sach­ liche. Texte von Brecht müssen übrigens aufgrund ei­ nes Einspruchs von Brechts Erben in der alten Recht­ schreibung gedruckt werden. Schlechte Zeit für Lyrik Ich weiß doch: nur der Glückliche Ist beliebt. Seine Stimme Hört man gern. Sein Gesicht ist schön. Der verkrüppelte Baum im Hof Zeigt auf den schlechten Boden, aber Die Vorübergehenden schimpfen ihn einen Krüppel Doch mit Recht. Die grünen Boote und die lustigen Segel des Sundes 1 Sehe ich nicht. Von allem Sehe ich nur der Fischer rissiges Garnnetz. Warum rede ich nur davon Daß die vierzigjährige Häuslerin gekrümmt geht? Die Brüste der Mädchen Sind warm wie ehedem. In meinem Lied ein Reim Käme mir fast vor wie Übermut. In mir streiten sich Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers 2 . Aber nur das zweite Drängt mich zum Schreibtisch. Morgens und abends zu lesen Der, den ich liebe Hat mir gesagt Daß er mich braucht. Darum gebe ich auf mich acht Sehe auf meinen Weg und Fürchte von jedem Regentropfen Daß er mich erschlagen könnte. Porträt Bertolt Brecht, Foto, undatiert 2 4 6 8 10 12 14 16 1 Sund: Bucht 2 Anstreicher: Hitler versuchte sich zunächst in Wien als Kunstmaler. 18 20 2 4 6 8 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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