Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

316 Literatur zwischen 1925 und 1945 Das Drama: episches Theater und sozialkritische Volksstücke Brechts radikal neues Theater: Die Zuschauer nicht „kidnappen“ und „besoffen machen“, sondern zum Denken und Handeln bringen Das Theater bis zu Brecht hatte die Poetik des Aristo­ teles als Richtlinie genommen. Aristoteles hatte als Ziel der Tragödie die Läuterung des Individuums, die Katharsis, gesehen. Das Bühnengeschehen sollte die Zuschauer/Zuschauerinnen emotional zur „Einfüh­ lung“ in Personen, Konflikte und Geschehen einladen. Furcht und Mitleid sollten im Publikum erweckt wer­ den. Brecht kritisiert, dass dieses „aristotelische Thea­ ter“ das Publikum als passiven Konsumenten behan­ delt, es „hypnotisiert“ und aus der Realität wegführt. Brecht will, dass das Publikum „nicht mehr aus seiner Welt in die Welt der Kunst entführt, nicht mehr gekid- nappt“ werden soll. Das epische Theater „versucht nicht mehr, ihn [= den Zuschauer] besoffen zu machen, ihn mit Illusionen auszustatten, ihn mit seinem Schick- sal auszusöhnen“ . Die Stücke sollen Bewusstsein und Denken des Publikums schärfen. Das Publikum soll nicht meinen, „so ist es, so wird es immer sein, das kann mir auch passieren, ich kann daran nichts än- dern“ , sondern zu Eingriffen in die gesellschaftliche Realität aufgefordert werden. Beispiele für Brechts Dramen, die gesellschaftliche Widersprüche aufzeigen sollen, sind „Leben des Galilei“ (3) , „Mutter Courage und ihre Kinder“, „Der gute Mensch von Sezuan“, „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ und „Der kaukasische Kreidekreis“. Mittel des epischen Theaters Um die Identifizierung mit den Bühnenfiguren zu ver­ hindern, bedient sich Brecht der „V-Effekte“ [= Ver­ fremdungseffekte]: Ansager auf der Bühne, Szenen­ titel, Inhaltsangaben, Spruchbänder mit Botschaften an das Publikum ( „Glotzt nicht so romantisch!“ ), Ende der Stücke mit Aufforderungen an das Publikum ( „Ver- ehrtes Publikum, los such dir selbst den Schluss!“ ), Mu­ sik, Songs, Lichteffekte. Die Schauspieler sollen Dis­ tanz zu ihrer Rolle zeigen, die von ihnen dargestellten Personen „spielen“, aber nicht „verkörpern“. Die Volksstücke Ödön von Horváths Die Personen in den Stücken Ödön von Horváths (1901– 38) sind alle aus der Bahn geworfen, von Krieg, Arbeits­ losigkeit und Weltwirtschaftskrise geprägt. Vor allem ihre Sprache entlarvt ihr falsches Bewusstsein und ihre falschen Gefühle. Ihre Sprache ist eine Sprache von der Stange: Hinter Phrasen, schönem Gerede, moralischem Gefasel, aufgeschnappten Redewendungen und ge­ spielter Herzlichkeit verbergen sich Grausamkeit und die Unmöglichkeit, sich selbst zu durchschauen. „Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit“ , lautet das Motto von „Geschichten aus dem Wiener Wald. Volksstück in sieben Bildern“, Horváths meistgespieltem Drama (1931). Hinter dem gemütli­ chen Titel des in einer kleinen Vorstadtgasse, im idylli­ schen Wienerwald und in der schönen Wachau spielen­ den Stückes verbergen sich Kindestötung, Brutalität und Männerherrschaft. Seelisch und körperlich ausge­ beutet wird in diesem Drama das naive Mädchen Mari­ anne, dem am Schluss nur die Resignation bleibt, ihr Leben niemals selbst gestalten zu können: „Ich hab mal Gott gefragt, was er mit mir vorhat. – Er hat es mir aber nicht gesagt, sonst wär ich nämlich nicht mehr da. – Er hat mir überhaupt nichts gesagt. – Er hat mich überra- schen wollen. – Pfui!“ Horváths animalische Figuren Eine typisch grausige Horváth-Figur ist der Fleisch­ hauergeselle Havlitschek aus „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Hier eine Textprobe: Havlitschek im Ge­ spräch mit seinem Chef Oskar über die Frauen. Oskar tritt aus seiner Fleischhauerei : Dass du es nur ja nicht vergisst: wir müssen heut noch die Sau abstechen – Stichs du, ich hab heut keinen Spaß daran. Havlitschek: Darf ich einmal ein offenes Wörterl reden, Herr Oskar? Oskar: Dreht sichs um die Sau? Havlitschek: Es dreht sich schon um eine Sau, aber nicht um dieselbe Sau – Herr Oskar, bittschön nehmens Ihnen das nicht so zu Herzen, das mit Ihrer gewesenen Fräulein Braut, schauns, Weiber gibts wie Mist! Ein jeder Krüppel findt ein Weib und sogar die Geschlechtskranken auch! Und die Weiber sehen sich ja in den entscheidenden Punkten alle ähnlich, glaubens mir, ich meine es ehrlich mit Ihnen! Die Weiber haben keine Seele, das ist nur äußerliches Fleisch! Und man soll so ein Weib auch nicht schonend behandeln, das ist ein Versäumnis, sondern man soll ihr nur gleich das Maul zerreißen oder so! 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus - Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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