Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

303 Expressionismus/Dadaismus (1910–1920/1925) Der Fokus Georg Trakl Ein Österreicher schreibt die herausragendsten expressionistischen Gedichte In Salzburg und Innsbruck, fern von den literarischen Zentren Berlin, München, Wien, entsteht zwischen 1910 und 1914 das lyrische Werk Georg Trakls (1887– 1914). Zu seinen Lebzeiten erscheinen zunächst nur vereinzelt Gedichte in Zeitschriften, vor allem in dem in Innsbruck erscheinenden „Brenner“, einem Forum für avantgardistische Literatur, das bis 1954 bestand. Die von Trakl zusammengestellte große Ausgabe der Gedichte erscheint erst 1915, nach Trakls Tod. Für die Wissenschaft ist Trakls Dichtung „die exzeptionelle Leistung der expressionistischen Lyrik überhaupt“ . Variationen eines Themas Im Jahr 1913 schreibt Trakl in einem Brief an den He­ rausgeber der Kulturzeitschrift „Brenner“: „Ich weiß nicht mehr ein und aus. Es ist ein so namenloses Un- glück, wenn einem die Welt entzweibricht. O Gott, welch ein Gericht ist über mich hereingebrochen. […] Es ist steinernes Dunkel hereingebrochen.“ Was im Brief durch die Wiederholung des Verbums „brechen“ aus­ gedrückt wird, ist das durchgehende Thema von Trakls Lyrik: der sich schuldig fühlende Mensch, der ohne Ori­ entierung ist und sich von Gott verlassen fühlt. Diese Thematik dominiert so sehr, dass ein Traklforscher das gesamte Werk als nur „ein Gedicht“ bezeichnet hat. Die Bilder für seine existenzielle Situation findet Trakl in Natur und Landschaft. Sie spiegeln im Kontrast zwi­ schen Schönheit und Hässlichkeit den seelischen Zu­ stand des Verfallens und Zerfallens. Unterbrochen werden diese Beschreibungen der Natur durch plötz­ lich eindringende geheimnisvolle Bilder, welche die Realität verlassen. Das Gedicht „De profundis“, ent­ standen 1912, zeigt exemplarisch Trakls Bilderwelt. Der Titel des Gedichtes bezieht sich auf den Psalm 130 des Alten Testaments, der in seiner lateinischen Form nach seinen ersten beiden Wörtern „De profundis“ benannt wird und dessen Beginn auf Deutsch lautet: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir.“ De profundis Es ist ein Stoppelfeld, in das ein schwarzer Regen fällt. Es ist ein brauner Baum, der einsam dasteht. Es ist ein Zischelwind, der leere Hütten umkreist. Wie traurig dieser Abend. Am Weiler vorbei Sammelt die sanfte Waise noch spärliche Ähren ein. Ihre Augen weiden rund und goldig in der Dämmerung Und ihr Schoß harrt des himmlischen Bräutigams. Bei der Heimkehr Fanden die Hirten den süßen Leib Verwest im Dornenbusch. Ein Schatten bin ich ferne finsteren Dörfern. Gottes Schweigen Trank ich aus dem Brunnen des Hains. Auf meine Stirne tritt kaltes Metall Spinnen suchen mein Herz. Es ist ein Licht, das in meinem Mund erlöscht. Nachts fand ich mich auf einer Heide, Starrend von Unrat und Staub der Sterne. Im Haselgebüsch Klangen wieder kristallne Engel. Porträt Georg Trakl, Foto, um 1910 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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