Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

30 Hochmittelalter (1170–1250) 3 „Sie wurden eins, die vorher zwei waren.“ Gottfried von Straßburg: „Tristan“ (zwischen 1200 und 1210) Ein Autor in Distanz zur höfischen Gesellschaft Hartmann von Aue ist ein adeliger Dichter, Wolfram von Eschenbach vermutlich ebenso. Gottfried von Straßburg hingegen wird in den Handschriften seiner Werke stets „meister“ genannt, nicht „her“, wie es ei­ nem Ritter zustünde. Er ist ein umfassend gebildeter Bürgerlicher aus dem elsässischen Straßburg. Zur höfi­ schen Gesellschaft verhält er sich kritisch. Ritterliche Sitten wie Turniere und Kampfspiele schildert er im Gegensatz zu seinen adeligen Dichterkollegen distan­ ziert und kurz, obwohl in seinem fast 20.000 Verse um­ fassenden „Tristan“, entstanden zwischen 1200 und 1210, Platz dafür wäre. Einmalig in der mittelalterli­ chen Literatur, bringt er, statt bei Tristans Erhebung in den Ritterstand die Aufnahmerituale ausführlich zu schildern, eine Beurteilung der Dichter seiner Zeit. Er lobt Hartmann wegen seiner „kristallînen wortelîn“ als den besten. Wolfram von Eschenbach attackiert er hin­ gegen heftig: Seine Dichtung vollführe allzu viele un­ kontrollierte „hôchsprünge“ und der Autor sei ein Erfin­ der unverbürgter Geschichten. Ein Roman, der verstört Vor allem aber weist Gottfried im „Tristan“ der Liebe einen besonderen Stellenwert zu. Sie ist für ihn keine kunstvoll gespielte Beziehung, die in engen Grenzen ablaufen muss, um die höfische Gesellschaft nicht zu gefährden. Im „Tristan“ herrschen Betrug, List und Ehe­ bruch und unbedingte seelische und körperliche Lie­ be, die auch das Leben kosten kann. Die Liebe küm­ mert sich nicht um die höfischen Ideale der „mâze“ . Dass ein solches Werk nichts für die höfische Gesell­ schaft ist, sieht auch Gottfried. Einmalig in der mittel­ alterlichen Dichtung, weist er darauf hin, dass sein Werk nur für besondere Zuhörer und Zuhörerinnen, die „edelen herzen“ , bestimmt sei. „Tristan“ im Überblick Ein junger Mann wirbt für einen alten Mann um eine junge Frau Der junge Tristan wird in einem Kampf verwundet und kann nur durch die Zauberkunst Isoldes, der Königin von Irland, geheilt werden. Als Spielmann Tantris ver­ kleidet, findet er Hilfe und Heilung bei ihr. Er wird Leh­ rer ihrer Tochter, der jungen Isolde. Doch Tristan muss an den Hof seines Onkels, des Königs Marke von Corn­ wall, zurückkehren. Dort schwärmt er von Isolde. Mar­ ke beschließt, um Isoldes Hand anzuhalten. Tristan fährt nach Irland zurück und wirbt für König Marke um Isolde. Er soll Isolde per Schiff zu Marke bringen. Der Liebestrank Für einen Autor der damaligen Zeit war es nicht leicht, die herrschenden höfischen Tugenden, wie etwa Treue, literarisch offen in Frage zu stellen. Gottfried muss deshalb das illegale Liebespaar Tristan und Isol­ de „entlasten“. Zu diesem Zweck führt Gottfried neben dem Gral das zweite bis heute bekannte Symbol in die mittelalterliche Literatur ein, den Liebestrank. Auf der Rückreise trinkt Tristan ahnungslos und versehentlich mit Isolde vom Liebestrank, der für Isolde und Marke gedacht ist: Darstellung des Gottfried von Straßburg im Codex Manesse, Universitätsbibliothek Heidelberg, frühes 14. Jh. Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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