Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

299 Expressionismus/Dadaismus (1910–1920/1925) „Der Prozess“ Josef K. erwacht und wird verhaftet Auch im „Prozess“ liegt der Bankangestellte Josef K. noch im Bett, als das Unheil eintrifft: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Josef K. versucht zu erfahren, welches Vergehen ihm zur Last gelegt wird. Doch niemand gibt ihm einen Verhaftungsgrund bekannt. Je länger der „Prozess“ dauert, umso mehr fühlt sich K. auf eine unbestimmte Weise schuldig, ohne sich aber eines konkreten Versto­ ßes gegen das Gesetz bewusst zu sein. Er möchte sei­ nen Fall vom obersten Gericht erklärt bekommen, kann es aber im Labyrinth der Amtsstellen nicht fin­ den. Ein schockierendes Ende Während der gesamten Handlung wird eine Schuld von Josef K. nicht erkennbar. Der „Prozess“ gegen ihn endet deshalb auch nicht, wie bei juridischen Verfah­ ren üblich, mit einer Verhandlung. So wie am Beginn des Romans zwei Männer in K.s Zimmer auftauchen und ihn aus seinem gewohnten Leben werfen, so tau­ chen im Schlusskapitel zwei Männer auf, um den „Pro­ zess“ zu beenden: Am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages – es war gegen neun Uhr abends, die Zeit der Stille auf den Straßen – kamen zwei Herren in K.s Wohnung. […] Er stand gleich auf und sah die Herren neugierig an. „Sie sind also für mich bestimmt?“, fragte er. Die Herren nickten, einer zeigte mit dem Zylinderhut in der Hand auf den anderen. […] So kamen sie rasch aus der Stadt hinaus, die sich in dieser Richtung fast ohne Übergang an die Felder anschloss. Ein kleiner Stein- bruch, verlassen und öde, lag in der Nähe eines noch ganz städtischen Hauses. Hier machten die Herren halt, sei es, dass dieser Ort von allem Anfang an ihr Ziel gewesen war, sei es, dass sie zu erschöpft waren, um noch weiter zu laufen. Jetzt ließen sie K. los, der stumm wartete, nahmen die Zylinderhüte ab und wischten sich, während sie sich im Steinbruch umsahen, mit den Taschentüchern den Schweiß von der Stirn. Überall lag der Mondschein mit seiner Natürlichkeit und Ruhe, die keinem anderen Licht gegeben ist. Nach Austausch einiger Höflichkeiten hinsichtlich dessen, wer die nächsten Aufgaben auszuführen habe, […] ging der eine zu K. und zog ihm den Rock, die Weste und schließlich das Hemd aus. […] Dann öffnete der eine Herr seinen Gehrock und nahm aus einer Scheide, die an einem um die Weste gespannten Gürtel hing, ein langes, dünnes beiderseitig geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die Schärfe im Licht. Wieder begannen die widerlichen Höflichkeiten, einer reichte über K. hinweg das Messer dem anderen, dieser reichte es wieder über K. zurück. K. wusste jetzt genau, dass es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er tat es nicht, sondern drehte den noch freien Hals und sah umher. Vollständig konnte er sich nicht bewähren, alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen […]. Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fenster- flügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein Einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiss gab es solche. […] Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger. Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechen- den Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. „Wie ein Hund!“, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben. ■■ Beschreiben Sie die Parallelen und Unter­ schiede in Bezug auf das Ende von Gregor und Josef K.! ■■ Die Literaturwissenschaft spricht von Kafkas „beinahe fetischistischer Hingabe ans Detail“ und „geradezu pedantisch exakter sprachli­ cher Erfassung der beklemmenden Vorgän­ ge“. Untersuchen Sie, zu welchen Textstellen in der „Verwandlung“ und im „Prozess“ Ihnen dieser Kommentar zu passen scheint. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv

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